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Kurz nach 16 Uhr

Die Türen des Fahrstuhls öffneten sich mit einem leisen Pling und ich verließ zögerlich die Kabine. Ich wollte noch nicht in die Suite zurückkehren und erneut auf Gibbs treffen, aber ich wusste, Ziva war bereits hier und wunderte sich sicher, weshalb ich nicht anwesend war.
Die letzten Stunden hatte ich damit verbracht, eher ziellos durch Washington zu wandern, um einen halbwegs freien Kopf zu bekommen, was mir nicht so recht gelungen war. Überall in der Stadt waren verliebte Pärchen Händchen haltend unterwegs, was den Schmerz in meinem Inneren verstärkte. Früher hatte mich dieser Anblick erfreut, aber heute versetzte er mich in eine niedergeschlagene Laune. Ständig musste ich an Gibbs und unseren Streit denken, der eigentlich total unsinnig gewesen war. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass er mich alleine mit Worten so sehr verletzen konnte, dass es mir schier das Herz zerriss. Ihm schien unsere gemeinsame Nacht nicht so viel zu bedeuten wie mir und diese Tatsache machte mich unendlich traurig. Ich hatte wirklich angenommen, zwischen uns wäre es jetzt anders, aber er hatte unmissverständlich klar gemacht, dass sich für ihn an unserem Verhältnis nichts geändert hatte. Und dabei hatte ich immer angenommen, er hätte einen weichen Kern – anscheinend hatte ich mich gründlich geirrt.
Irgendwann war mir bewusst geworden, dass es keine Lösung war, wenn ich ständig davonlief. Normalerweise ging ich keinem Konflikt aus dem Weg, aber bei Jethro war es etwas anderes. Alleine seine Gegenwart machte mich fast verrückt und mir war wieder einmal nur die Flucht geblieben, um in Ruhe nachdenken zu können. Aber dies war nicht das Richtige und mir war klar geworden, dass wir nur gemeinsam einen Weg durch dieses Chaos finden konnten, das wir selbst produziert hatten – egal wie schwer es werden würde. Dies war auch der Grund, weshalb ich mich entschieden hatte, zurückzugehen – das und der Einsatz, welcher in ein paar Stunden über die Bühne gehen würde. Gibbs und meine persönlichen Probleme konnten warten, jetzt zählte es, die Hintermänner zu schnappen. Vielleicht würden wir hinterher endlich ein vernünftiges Gespräch zustande bringen, ohne uns gegenseitig an die Gurgel zu springen.
Ich blieb vor der Suite stehen, atmete noch einmal tief durch und öffnete die Tür. Bei meinem Eintreten musterten mich drei Augenpaare. Jethro saß in einem Sessel und ich konnte seine Erleichterung förmlich spüren, als er mich erblickte. Ich konnte mir vorstellen, dass er sich nicht sicher gewesen war, ob ich rechtzeitig oder überhaupt zurückkommen würde. Ziva trug wieder ihr Zimmermädchenoutfit und saß neben McGee auf dem Sofa, der wie üblich einen Anzug anhatte. Mit seinem Erscheinen hatte ich gar nicht gerechnet und so war ich umso überraschter, ihn zu sehen.
Ich schloss die Tür, ließ mich in den verbleibenden freien Stuhl fallen und streckte meine Beine von mir. „Tut mir leid, dass ich erst jetzt komme, aber ich habe die Zeit übersehen", sagte ich, obwohl es nicht wirklich der Wahrheit entsprach. Gibbs zog wissend eine Augenbraue in die Höhe und alleine seine Anwesenheit genügte, um den Schmerz in meinem Inneren zu verstärken. Noch immer trug er die Jeans und das schwarze Hemd und seine Augen leuchteten mit einer Intensität, die mir unheimlich war. Ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, fing mein Herz schneller zu klopfen an und trotz der verletzenden Worte, die zwischen uns gefallen waren, stieg in mir das Bedürfnis auf, ihn zu berühren.
„Jetzt bist du ja hier, DiNozzo", erwiderte er beinahe emotionslos, was mich daran erinnerte, dass ich für ihn nur ein Mitarbeiter war. Ich zügelte meine Wut, die schon wieder in mir aufstieg und spürte förmlich, wie sich zwischen uns eine Spannung aufbaute, die beinahe knisterte. Es war ein Wunder, dass zwischen uns keine Blitze zuckten.
„Ähm, ist mit euch alles in Ordnung?" fragte McGee ein wenig schüchtern und blickte zwischen mir und meinem Boss hin und her. „Alles bestens, Bambino", meinte ich und lehnte mich zurück. Sogar er schien zu bemerken, dass sich die Atmosphäre mit meinem Erscheinen verändert hatte, war aber klug genug, nicht weiter nachzufragen. „Ich bin einfach nur froh, wenn dieser Einsatz endlich vorbei ist", fügte ich hinzu und fühlte eine gewisse Befriedigung, als ich merkte, dass sich Gibbs versteifte und ein wenig auf der Sitzfläche hin und her rutschte. „Das sind wir alle", erwiderte Ziva und fuhr sich durch ihre langen Haare. „Ich kann es kaum erwarten, dieses dämliche Kleid endlich loszuwerden." „Also, ich finde, es steht dir super", meinte ich mit einem breiten Grinsen, das mir ein wenig gekünstelt vorkam, aber sie schien es mir abzukaufen. In meinem Inneren tobte ein Chaos, aber äußerlich war ich der fröhliche Tony – ich hätte Schauspieler werden sollen.
Meine Kollegin warf mir einen vernichtenden Blick zu, setzte bereits zu einem Konter an, als Gibbs sie unterbrach: „Können wir jetzt weitermachen? Wir haben schließlich nicht den ganzen Tag Zeit." Seine Stimme war gewohnt schroff und er hatte sich wieder voll im Griff, jedenfalls nach außen hin. „Tschuldigung, Boss", erwiderte ich, wobei ich das letzte Wort besonders betonte, was nicht einmal Ziva entging. Verwundert tauschte sie einen Blick mit McGee, aber beide behielten ihre Gedanken für sich. Jethro sah mich wütend an und wenn mich nicht alles täuschte, glomm für eine Sekunde Schmerz in seinen Augen auf. Aber kurz darauf wirkte er wie immer und ich hatte das Gefühl, mich getäuscht zu haben.
Tim räusperte sich, betrachtete die Holzmaserung des Tisches, bevor er seine Aufmerksamkeit uns widmete: „Wir haben gestern und heute Vormittag das gesamte Fabrikgelände durchsucht und geeignete Positionen gefunden, wo heute Abend ein paar Agenten postiert werden. Diese Stellen liegen sehr gut versteckt und man würde sie nur finden, wenn man direkt davor stehen würde." „Das gesamte Gelände besteht aus drei großen Lagerhallen und zahlreichen Bürogebäuden, die nicht sonderlich gepflegt aussehen", übernahm Ziva. „Wir haben herausgefunden, dass dort früher einmal Glas verarbeitet wurde, aber die Firma ging vor fünf Jahren den Fluss hinunter." „Es heißt den Bach hinunter", korrigierte ich sie automatisch. „Ist doch dasselbe", meinte sie. „Na, wenn du es sagst." Ich grinste sie an und ignorierte den ungeduldigen Blick, den uns Gibbs zuwarf.
„Jedenfalls werden wir euch heute Abend nicht aus den Augen lassen", fuhr Ziva fort und holte aus ihrer Schürze ein kleines Kästchen hervor, welches sie aufklappte. Darin lagen zwei kleine Ohrstöpsel, die ich nur zu gut kannte. „Direktor Sheppard meinte, ihr sollt sie diesmal heil lassen. Sie war nicht gerade erfreut, als ihr die anderen einfach so kaputt gemacht habt." „Das war Gibbs", erwiderte ich prompt. „Er hat sie die Toilette runtergespült." „Ja, aber es war deine Idee, dass uns niemand in dem Club zuhören soll", verteidigte er sich und ich war nicht der Einzige, der ihn verwundert ansah. Seit wann rechtfertigte er sein Tun? „Seid ihr sicher, dass alles in Ordnung ist?" fragte nun auch Ziva neugierig. „Was sollte denn nicht stimmen, Officer David?" meinte ich und hob eine Augenbraue. „Ich weiß auch nicht, aber ihr beide benehmt euch komisch, so als ob ihr…" „Können wir weitermachen?" mischte sich der Chefermittler schroff ein und beugte sich vor. Ihm war nicht entgangen, dass unsere beiden Kollegen langsam Lunte rochen, was bei der Stimmung, die zwischen uns herrschte, nicht verwunderlich war. In seine Augen trat ein gefährliches Funkeln, was ihn mehr als attraktiv machte. Mein Puls schoss in die Höhe und um zu kaschieren, was in meinem Inneren vorging, meinte ich lässig: „Ja, lasst uns endlich weiterkommen. Gibt es noch etwas Wichtiges, was wir wissen sollten?" McGee sah auf und antwortete: „Direktor Sheppard meinte, du sollst wieder die Brille tragen, damit wir alles bildlich mitverfolgen können. Abby kann dann die Gesichter der Männer gleich mit den Datenbanken abgleichen und sie eventuell identifizieren. Falls etwas schief gehen sollte, wären wir sofort zur Stelle, um euch da raus zu holen. Es ist für alles gesorgt." „Es wird schon gut gehen", sagte Gibbs, erhob sich und holte sich eine Flasche Wasser. „Wir werden uns diese Verbrecher schnappen und endlich wieder in unser altes Leben zurückkehren." „Dein Wort in Gottes Ohr", erwiderte ich und erntete prompt einen bösen Blick. Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass ich mich deswegen unwohl fühlte und meinte: „Wir haben noch etwa vier Stunden, bevor wir aufbrechen. Will jemand etwas Essen? Geht auf Kosen des NCIS." Während Jethro kopfschüttelnd sein Wasser trank, stürzten sich Ziva und McGee begeistert auf die Essenskarte, die auf dem Tisch lag.
Noch ahnten wir nicht, dass dieser Abend eine Überraschung für uns bereithielt, die sich als lebensgefährlich herausstellen sollte.

Genau um 21:30 Uhr verließen wir die Tiefgarage des Hotels, um uns zu dem Treffpunkt mit den Hintermännern zu begeben. Gibbs saß wieder einmal hinter dem Steuer des Sportwagens, den ich bis jetzt kein einziges Mal fahren durfte. Und wahrscheinlich bekam ich auch keine Gelegenheit mehr dazu, da der Einsatz in ein paar Stunden beendet sein würde.
Während wir mit hoher Geschwindigkeit durch das nächtliche Washington fuhren, zog ich es vor, aus dem Seitenfenster zu sehen. Obwohl der Tag sich dem Ende zuneigte, waren viele Menschen unterwegs, die den Beginn des Wochenendes gebührend feiern wollten. Vor den Clubs waren regelrechte Warteschlangen und auf den Bürgersteigen tummelten sich die Nachtschwärmer. Ich würde jetzt auch lieber zu ihnen gehören, als hier mit Jethro in dem engen Fahrzeug zu sitzen. Zwischen uns hatte sich ein Schweigen ausgebreitet, das nur von den Verkehrsgeräuschen unterbrochen wurde. Seit Ziva und McGee die Suite verlassen hatten, hatten wir nur das Nötigste miteinander gesprochen. Wir hatten es vermieden, uns anzusehen oder uns zu nahe zu kommen, aus Angst, etwas Unüberlegtes zu tun, was die bereits viel zu komplizierte Situation noch verschlimmern würde. Ich hatte die restlichen Stunden im Schlafzimmer verbracht und hatte die Zeitung gelesen, während sich Gibbs vor den Fernseher gesetzt und ständig den Kanal gewechselt hatte, wie ich durch die offen stehende Tür mitbekommen hatte. Obwohl ich es überhaupt nicht ausstehen konnte, nichts mit ihm zu reden, hatte ich es nicht über mich gebracht, ein Gespräch anzufangen. Wer wusste schon, welche Worte dann zwischen uns gefallen wären und vielleicht wäre der Einsatz endgültig geplatzt. Die Zeit war für meinen Geschmack viel zu langsam verronnen und als es endlich kurz vor halb zehn Uhr gewesen war, war ich mehr als erleichtert, endlich etwas tun zu können, was mich von meinen Gefühlen und den Gedanken über Jethro ablenkte – allerdings nicht für lange, denn kaum hatten wir in dem Wagen Platz genommen, war die Stimmung noch drückender als in dem Hotelzimmer, da jetzt viel weniger Freiraum zwischen uns war.
Ich warf einen kurzen Blick auf Gibbs, der sich auf die Straße konzentrierte und das Lenkrad so fest umklammerte, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Die Laternen erhellten sein Gesicht in regelmäßigen Abständen und ich konnte erkennen, dass er seine Zähne aufeinander presste. Er schien wütend zu sein und das ließ er an den anderen Verkehrsteilnehmer aus, die das Pech hatten, sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung zu halten. Normalerweise würde ich mich aufregen, wenn er waghalsig andere Fahrzeuge überholte, aber heute war mir das nur Recht. Immerhin würden wir unser Ziel schneller erreichen und ich könnte endlich seiner körperlichen Nähe entfliehen, die gleichzeitig Sehnsucht und leichtes Unbehagen in mir hervorrief.
Ich rückte die Brille zu Recht, die mir ein wenig hinuntergerutscht war und zuckte leicht zusammen, als Jethro bei gelb über eine Kreuzung raste und fast in den Vordermann krachte, als dieser abrupt abbremste, da ein Fußgänger einfach über die Straße lief. Mein Herzschlag erhöhte sich und ich betete darum, heil unser Ziel zu erreichen. An diesem Abend hatte er einen fast schlimmeren Fahrstil als Ziva und das sollte etwas heißen.
„Hey, Leute, seid ihr überhaupt noch da?" drang Abbys Stimme in mein Ohr und prompt tauchte ein Bild der jungen Frau vor meinen Augen auf, wie sie im Labor stand, ein Headset auf dem Kopf, und wild auf die Computertastatur einhämmerte. Gemeinsam mit Direktor Sheppard verfolgte sie die Aktion in ihren geheiligten Hallen, während Ziva und McGee bereits in der Nähe der verlassenen Fabrik auf unser Eintreffen warteten. „Wo sollten wir denn sonst sein, Abbs?" fragte Gibbs in seiner üblichen netten Weise und überholte einen Kleinwagen, der von einem alten Mann gefahren wurde, der kaum über das Lenkrad hinweg sah. „Was ist los mit euch? Ihr seid so still", sagte sie und an dem Geräusch, dass zu uns durchdrang, nahm ich an, dass sie gerade einen Schluck CafPow zu sich nahm. „Es ist alles Bestens", antwortete ich und widerstand der Versuchung, erneut aus dem Seitenfenster zu blicken, stattdessen starrte ich stur geradeaus. „Das hoffe ich", mischte sich Jenny ein. „Es darf nichts schief gehen." „Wird es auch nicht", knurrte Jethro und bog mit quietschenden Reifen in eine ruhigere Straße ab. Erneut breitete sich Schweigen aus, noch eine Spur drückender als vor ein paar Minuten.
„McGee, wie sieht es aus?" fragte der Chefermittler, als wir nur mehr eine Meile von unserem Ziel entfernt waren. „Vor etwa einer halben Minute ist ein Wagen auf das Gelände gefahren und ist in einem Lagerhaus verschwunden. Wir haben die Insassen nicht erkannt, da die Scheiben getönt waren. Sonst ist alles ruhig, Boss." So weit ich wusste, hatten Ziva und er sich eine Position auf einem kleinen Hügel gesucht, von welchem sie das ganze Gebiet überblicken konnten. „Na, dann kann es ja los gehen", meinte ich und richtete mich ein wenig auf. Die Umgebung hatte sich vollkommen geändert. Am Straßenrand gab es keine Laternen mehr, das einzige Licht kam von den Scheinwerfern unseres Wagens. Das Gras auf den Wiesen wucherte vor sich hin und vereinzelt lag Müll am Wegrand. Es gab keine Häuser und nichts deutete daraufhin, dass es hier Menschen gab. „Nette Gegend", war Abbys Kommentar dazu. Kurz darauf erreichten wir ein hohes Tor aus Maschendrahtzaun, welches offen stand. Seitlich davor befand sich ein verlassenes Wachhäuschen, von dem die Scheiben zerbrochen waren und der ehemals weiße Anstrich war von Graffitis übersät – eines greller als das andere. „Da kann man ja noch Schimpfwörter dazulernen", sagte die Forensikerin, als ich die Schriften einer eingehenden Musterung unterzog, bevor wir auf das Gelände fuhren. Der Asphalt war an einigen Stellen aufgebrochen und Unkraut wuchs in den Ritzen. Das gesamte Areal war riesig und lag zum größten Teil in Dunkelheit. Die Gebäude und Lagerhallen zeichneten sich als Schatten ab und das schwache Licht des Halbmondes verlieh dem Ganzen einen gruseligen Touch. Vereinzelt konnte man erkennen, dass ein paar Fenster der Häuser vernagelt waren und dass der Verputz abbröckelte.
Gibbs ging vom Gas herunter und fuhr langsam über das Gelände. „In welchem Lagerhaus ist der Wagen verschwunden?" fragte er. „Im mittleren", antwortete Ziva sofort.
Wir brauchten nicht lange, um unser Ziel zu erreichen und sofort wussten wir, dass wir richtig waren. Zwar waren die beiden Tore geschlossen, aber die Tür dazwischen stand offen und ließ einen bleichen Lichtschimmer ins Freie. Jethro hielt den Wagen an, öffnete die Tür und stieg aus. Ich folgte ihm und ich spürte, wie mein Körper vermehrt Adrenalin ausschüttete. Der Grund war diesmal nicht mein Kollege, sondern die Aufregung, die sich in mir breit machte. „Seid vorsichtig", sagte Jenny und ihre Stimme klang ungewohnt besorgt. Ich blickte zu Gibbs, der mir zunickte und gemeinsam gingen wir auf die Lagerhalle zu. Aus der Nähe wirkte sie noch riesiger und heruntergekommener. Im Inneren herrschte ein Zwielicht, welches von einer nackten Glühbirne erzeugt wurde, die über der Tür hing und es nicht wirklich schaffte, die Dunkelheit zu vertreiben. Die Halle war groß und in der Dämmrigkeit konnte man gerade noch erkennen, dass in etwa drei Metern Entfernung links ein Gang in den hinteren Teil des Gebäudes führte. Sowohl der Boden als auch die Wände bestanden aus Beton, der an einigen Stellen Schmutzflecken aufwies. Vereinzelt lagen kaputte Werkzeuge herum, ansonsten gab es hier drinnen nichts – außer den schwarzen Lieferwagen, der hinter einem der Tore stand und dessen hintere Türen offen standen. Mindestens ein halbes Dutzend Kisten befanden sich auf der Ladefläche und warteten darauf, ausgeladen zu werden. „Und wo sind die Männer?" fragte McGee. Seine Stimme ließ mich leicht zusammenzucken, da ich komplett vergessen hatte, dass wir mit der Außenwelt in Kontakt standen. Ich drehte mich einmal im Kreis, und blickte mich genauso wie Gibbs suchend um. Ein paar Sekunden später räusperte sich links von uns jemand und drei Personen tauchten aus dem dunklen Gang auf. Alle waren groß, muskulös und hatten einen einheitlich kurzen Haarschnitt. Sie trugen dunkle Anzüge und machten den Eindruck von gewalttätigen Türstehern. An den Gürteln steckten Holster mit Waffen, was mich daran erinnerte, dass Jethro und ich ebenfalls unsere Pistolen mitführten, gut versteckt unter den Hemden, die wir trugen. „Ihr seid früh dran", sagte der Rechte und an seiner unheimlichen Stimme erkannte ich denjenigen, der uns vor zwei Tagen im Hotel angerufen hatte. „Rafe hatte wieder einmal einen Bleifuss", erwiderte ich und grinste, was aber nicht so gut anzukommen schien, jedenfalls verrieten mir das ihre unbewegten Mienen.
Auf einmal erklangen erneut Schritte und eine vierte Person erschien, nur blieb sie im Schatten stehen, sodass wir nicht einmal die Umrisse erkennen konnten. Prompt drehten sich die Drei um und Flüsterlaute drangen an mein Ohr, so leise, dass ich kein einziges Wort verstehen konnte. Unwillkürlich stellten sich meine Nackenhaare auf und ich sah zu Gibbs, der sich versteifte. Er schien ebenso zu spüren, dass irgend etwas nicht stimmte. Meine Herzfrequenz steigerte sich, aber dennoch zwang ich mich, einen möglichst gelassenen Eindruck zu machen. Nach nicht einmal einer halben Minute hallten erneut laute Schritte durch die Halle und die Person verschwand wieder in dem Gang. Die Männer drehten sich um und funkelten uns bedrohlich an. „Stimmt etwas nicht?" fragte Jethro und seine Hand wanderte langsam zu seiner linken Hüfte, an der sich das Holster mit seiner Waffe befand. „Sagen Sie uns das", antwortete der Mittlere und während der Linke zur Tür ging, um sie zu schließen, kamen die beiden anderen auf uns zu. „Was geht da vor sich?" hörte ich Jennys Stimme.
„Jake, sperr ordentlich ab!" befahl der Größte. Ich spürte, wie uns die Kontrolle entglitt und die ganze Sache schien auf einmal gewaltig schief zu gehen. Meine Hand fuhr zu meiner Hüfte, aber bevor ich die Waffe erreichen konnte, blickte ich in die Mündung einer Pistole. „Was soll das?" wollte ich wissen, aber als Antwort bekam ich lediglich ein Knurren. Jethro hatte ebenfalls keine Chance, da er genauso wie ich in den Lauf einer Waffe blickte. Sie kamen immer näher und als ich Anstalten machte, einen Schritt zurückzuweichen, überwand derjenige, der uns angerufen hatte, innerhalb einer Sekunde die Distanz zwischen mir und ihm und packte mich grob am Oberarm. Ohne ein Wort zu verlieren, riss er mir die Brille vom Gesicht und warf sie zu Boden. „Hey!" rief ich erbost und versuchte mich aus dem harten Griff zu befreien. Aus den Augenwinkeln bekam ich mit, wie Gibbs entwaffnet und mit dem Gesicht voran an die Wand gepresst wurde. „Verdammt, was soll das?!" wiederholte ich meine Frage von vorhin, wurde aber wie mein Kollege ein paar Sekunden vorher an die Mauer gepresst. Meine Wange fuhr unsanft an dem Beton entlang und ich spürte, wie mir starke Finger meine Pistole abnahmen. Kurz darauf entfernte er den Stöpsel aus meinem Ohr, ließ ihn auf die Erde fallen und trat darauf. „Halt die Klappe, Nathan", antwortete er endlich, drehte mich um und brachte sein Gesicht nahe an meines, sodass sein Atem warm über meine Haut strich. „Oder sollte ich dich lieber Anthony DiNozzo nennen?" Mir gefror das Blut in den Adern und Angst stieg in mir auf, als mir bewusst wurde, dass soeben unsere Tarnung aufgeflogen war. „Wie…?" begann ich, wurde aber sofort unterbrochen: „Das erfährt ihr noch bald genug." Ich suchte verzweifelt nach einem Ausweg, nur fand ich keinen. Gibbs befand sich neben mir und wurde genauso in Schach gehalten. Er hatte seine Gefühle besser unter Kontrolle als ich, aber ich wusste, er war gleichermaßen geschockt, dass plötzlich alles nach hinten losging. „Sie machen einen gewaltigen Fehler", sagte er ruhig und durchbohrte sein Gegenüber mit seinen blauen Augen. „Schnauze, Bulle!" schrie der andere. „Wir sind Bundesagenten", meinte ich darauf. „Da besteht ein gewaltiger Unterschied." „Ich kann beide nicht ausstehen", erwiderte mein Bewacher und versetzte mir unmittelbar einen harten Schlag ins Gesicht, sodass mir prompt Blut aus der Nase floss und meinen Mund mit einem ekligen metallischen Geschmack füllte. „Hören Sie auf!" schrie Gibbs und versuchte sich zu befreien. Ich bekam nicht einmal die Möglichkeit, die Blutung zu stillen, denn ich wurde erneut grob am Arm gepackt, von der Wand weggezerrt und in den dunklen Gang geführt, indem vor ein paar Minuten die vierte Person verschwunden war. Noch immer versuchte ich zu realisieren, was da gerade passierte. Weshalb war unsere Tarnung aufgeflogen? Wir hatten doch nichts gesagt oder unternommen, was den Verdacht dieser Männer erregen konnte, dass etwas nicht stimmte. Aber trotzdem hatten sie es irgendwie herausgefunden.
Jethro und ich wurden durch einen langen Gang gelotst, von dem zahlreiche Türen abzweigten. Am Ende des Flures führte eine Treppe in das Untergeschoss. Gnadenlos wurden wir weitergezerrt, bogen einmal links und dann wieder rechts ab und nach ein paar Sekunden hatte ich komplett die Orientierung verloren. Plötzlich drängte sich mir ein Gedanke auf: Wo blieb unsere Verstärkung? Es musste doch klar sein, dass wir in Schwierigkeiten steckten, zumal die Verbindung nach außen unterbrochen worden war. Würden uns unsere Kollegen in diesem Labyrinth rechtzeitig finden? Ich konnte es nur hoffen.
Am Ende des schmalen Ganges blieben wir vor einer Tür stehen, die Jake sofort öffnete. Der kleine Raum wurde von einer Glühbirne hell erleuchtet. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein Regal, das jedoch bis auf eine dicke Staubschicht leer war. Davor stand ein einzelner Stuhl, auf dem eine Person saß, die bei unserem Eintreten den Kopf hob. Ich blieb mit einem Ruck stehen und hatte das Gefühl, meine gesamten Muskeln würden mir den Dienst versagen. Trotz der warmen und muffigen Luft wurde mir eiskalt und die Umgebung fing sich leicht zu drehen an. Ich vergaß meine pochende Nase und das Blut, welches mir noch immer über das Kinn floss. Nur am Rande bekam ich mit, wie Gibbs neben mir zum Stehen kam und mir einen verwunderten Blick zuwarf. Meine Konzentration galt der Frau, die auf dem sicher unbequemen Sessel saß. Ihr aufreizender Körper steckte in einem schlichten dunkelblauen Kostüm, das sie mit einer weißen Bluse und schwarzen Pumps kombiniert hatte. Ihre langen blonden Haare hatte sie zu einem festen Knoten geschlungen und ihr liebliches Gesicht hatte einen kalten Ausdruck angenommen. Die hellblauen Augen funkelten mich mörderisch an und in der rechten Hand hielt sie eine Waffe, die genau auf mich zielte. Mein Hals war auf einmal staubtrocken und ich musste mehrmals schlucken, um den großen Kloß loszuwerden. Mein Herz schlug wie wild in meiner Brust und ich fragte mich, ob ich eine Wahnvorstellung hatte. Aber auch nach mehreren Sekunden blieb das Bild unverändert und schließlich öffnete ich meinen Mund, um krächzend nur ein einziges Wort zu sagen – wobei es eher zu einer Frage wurde: „Melinda?!"

Fortsetzung folgt...
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