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Kaum hatte sich der Fahrstuhl in Bewegung gesetzt, kam er auch schon wieder ruckend zum Stehen, als Gibbs den Stopphebel umlegte. Die Lichter gingen aus und wurden durch die Notbeleuchtung ersetzt, die die Agents in dämmriges Licht tauchte. Für beide war es nichts Neues, sich hier aufzuhalten, war doch diese kleine Kabine ihr persönlicher Konferenzraum, den niemand sonst ohne Vorwarnung betreten konnte. Keiner konnte sie belauschen oder beobachten, wie sie ihre griesgrämigen Mienen fallen ließen, die sie ständig der Außenwelt zeigten und anderen damit vormachten, dass sie sich nicht ausstehen konnten. Aber es war schon lange klar, dass sich zwischen den beiden in den Jahren eine Art Freundschaft entwickelt hatte und sie sich respektierten.
„Kaugummi?" fragte Fornell und hielt Gibbs die Packung unter die Nase. Dieser schüttelte den Kopf, was der andere mit einem Schulterzucken zur Kenntnis nahm, sich einen Streifen in den Mund steckte und den Rest in seine Manteltasche zurücksteckte. „Also, weshalb wollten Sie mich unter vier Augen sprechen? Nicht, dass ich es hier nicht nett finden würde, aber momentan habe ich ziemlich viel Arbeit." „Ich will alles, was Sie über Jeremy McDonald haben. Jedes noch so winzige Detail." Ohne lange um den heißen Brei herumzureden, kam Jethro auf den Punkt. „Und was ist für mich drin?" wollte der kleinere Mann wissen und lehnte sich an die Wand, genau an die Stelle, an der am Morgen Tony gestanden hatte. Unbewusst leckte sich Gibbs mit der Zunge über die Lippen, so als ob er den leidenschaftlichen Kuss noch immer spüren konnte, der eine Ewigkeit zurückzuliegen schien. Über drei Stunden waren vergangen, seit er seinen jungen Freund das letzte Mal berührt hatte – von einer Kopfnuss abgesehen – und er sehnte sich danach, seine Finger in dessen Haaren zu vergraben. Er verfluchte ein wenig die Tatsache, dass die Abdrücke von Jeremy McDonald gespeichert gewesen waren, sonst hätte er sich schon längst mit Tony in den Fahrstuhl verziehen können, anstatt jetzt mit Fornell hier zu stehen. Mit Mühe brachte er seine Gedanken wieder auf den Grund, weshalb er sich mit dem Agenten im Aufzug befand. „Wieso können Sie mir nicht einfach Informationen über McDonald geben, ohne gleich etwas zu verlangen?" fragte Gibbs etwas zu laut und wusste, so würde er auch nicht ans Ziel gelangen, aber diesmal hatte er keinen Nerv mit Fornell zu verhandeln, nicht wenn es um Tonys Leben ging. Und je länger sie brauchten, um mehr über den Einbrecher herauszufinden, desto wahrscheinlicher war es, dass die Gangster vorher zuschlagen würden, bevor sie wussten, wer dahinter steckte. Solange sich sein Freund im Hauptquartier aufhielt, konnte ihm nichts passieren, aber er wusste, er konnte ihn nicht im Büro einsperren. Aber er hatte einfach Angst, ihn ins Freie zu lassen, auch mit einem Begleiter. Immerhin war McDonald ein mehrfach gesuchter Mörder gewesen und er hatte so das Gefühl, dass seine Komplizen genauso brutal waren und nicht zurückschrecken würden, andere zu töten, um an ihr Ziel zu gelangen.
„Das würde gegen meine Ethik verstoßen", antwortete Fornell und kaute auf dem Kaugummi herum. Normalerweise störte das den Chefermittler nicht, aber heute machte ihn diese Bewegung mehr als wütend. „Sie haben doch gar keine Ethik, Tobias. Sie sind vom FBI, mich wundert es, dass Sie dieses Wort überhaupt kennen." Am liebsten würde Gibbs auf und abgehen, aber in dieser kleinen Kabine würde er nicht weit kommen. Deshalb begnügte er sich, seinen gegenüber möglichst böse anzufunkeln.
Der Agent ließ sich jedoch nicht davon beeindrucken und kaute weiter. Ihm war bewusst, dass er die Geduld seines Gegenübers strapazierte, aber er hatte noch nie von sich aus Informationen herausgegeben, ohne eine Gegenleistung dafür zu bekommen. Immerhin war McDonald ein Fall des FBI, auch wenn er sich dazu entschlossen hatte, bei einem NCIS Agent einzubrechen.
„Das war aber jetzt unter die Gürtellinie, Jethro", erwiderte er gespielt beleidigt und verschränkte die Arme vor der Brust. Dieser atmete tief durch, was aber nicht zu seiner Beruhigung beitrug. Er stand hier herum, während irgendwo in Washington wahrscheinlich zu dieser Minute ein Plan geschmiedet wurde, um an Tony heranzukommen. Und ihm war mehr als bewusst, dass dieser die nächste Begegnung mit den Gangstern vielleicht nicht überleben würde. Es war diese Tatsache, die ihm unglaubliche Angst machte, zusätzlich brodelte deswegen eine Mordswut in ihm. McDonald war die einzige Spur die sie hatten, um herauszufinden, wer die Fäden zu dem Mord zog, der auf dem Handy festgehalten wurde. Dass Fornell so gelassen dastand und ihn kauend ansah, brachte schließlich das Fass zum Überlaufen.
Mit einer blitzschnellen Bewegung stützte er seine Arme neben dem Körper des Mannes ab und brachte sein Gesicht so nahe an seines, dass er den Pfefferminzgeruch des Kaugummis wahrnehmen konnte. Der FBI Agent musste unwillkürlich schlucken, als er das wütende Funkeln in Gibbs' Augen sah. Noch nie war es vorgekommen, seit sie sich den Fahrstuhl als Konferenzraum ausgesucht hatten, dass er ihn derart in die Enge getrieben hatte. Sein Gegenüber machte auf ein plötzlich den Eindruck eines wütenden Raubtieres und zum ersten Mal verstand er so richtig, weshalb man dem Chefermittler besser aus dem Weg gehen sollte, wenn er wütend war. Nur leider konnte er nirgendwo hin, war zwischen ihm und der Fahrstuhlwand gefangen.
„Jetzt hören Sie mir genau zu, Tobias", sagte Gibbs mit gefährlich leiser Stimme. „Irgendwo da draußen sind Verbrecher, die dieses Handy zurückhaben wollen, das jemand Tony in die Jackentasche gesteckt hat. Heute Nacht wäre es diesem McDonald fast gelungen ihn umzubringen und das alles nur wegen einem Video, auf dem man nicht viel erkennen kann, außer dass jemand erschossen wurde. McDonald ist die einzige Spur, die wir haben und wir brauchen Informationen über ihn, ist das so schwer zu verstehen?" Er war immer lauter geworden und die Frage hatte er mittlerweile geschrien, unfähig, seine Wut noch länger zurückzuhalten. „Verdammt, Tobias! Hier geht es um das Leben meines Freundes und Sie wollen doch tatsächlich einen Vorteil für sich herausschlagen! Das Einzige, was ich haben will, sind ein paar Informationen über diesen McDonald, die uns dabei helfen könnten, herauszufinden, wer dahinter steckt, um so Tonys Leben zu retten! Eher wird die Hölle zufrieren, bevor ich zulasse, dass ihm etwas geschieht!"
Fornell blickte noch immer in Gibbs' Augen, überrascht von dem Wutausbruch. Aber jetzt konnte er in dem Blau noch etwas anderes als Ärger entdecken – Angst. Der unerschütterliche Chefermittler hatte unverkennbar Angst um seinen Agent und es war diese Tatsache, die es ihm unmöglich machte, auf ihn sauer zu sein, obwohl er ihn angebrüllt hatte. Es war das erste Mal, dass er Gefühle zeigte, die ihn plötzlich so menschlich wirken ließen. Und dann waren da noch seine Worte die ihm nicht mehr aus dem Kopf gingen.
„Das Leben Ihres Freundes?" fragte er leise, wobei er dieses eine Wort besonders betonte. Und mit einem Mal schien die ganze Anspannung von Gibbs abzufallen und er ließ seine Arme sinken. In seiner Wut war ihm gar nicht bewusst geworden, dass er diesen Wortlaut verwendet hatte.
„Ja, Tobias", erwiderte er mit leiser Stimme, lehnte sich gegenüber an die Wand und fuhr sich mit einer Hand über sein Gesicht. „Tony ist nicht nur mein bester Agent sondern auch mein Freund." Er ließ das so im Raum stehen, obwohl er sich mehr als bewusst war, dass die Worte eine doppelte Bedeutung hatten, aber ihm war das egal. Sollte sich Fornell ruhig seine Gedanken darüber machen - was dieser auch tat. Er hatte Gibbs noch nie so gesehen, nicht einmal vor Monaten, als der Undercovereinsatz beinahe schief gegangen und DiNozzo ermordet worden wäre. Damals hatte er sich Sorgen gemacht, aber er hatte keine Angst gehabt, jedenfalls nicht die Angst, die sich vor kurzem in seinen Augen gespiegelt hatte. Es war die Furcht gewesen, einen geliebten Menschen zu verlieren, was er selbst nur zu gut kannte, immerhin war er Vater und liebte seine Tochter über alles. Er wusste nicht, was er machen würde, sollte ihr jemals etwas zustoßen.
Obwohl es mehr als verrückt war, wurde ihm bewusst, dass Agent DiNozzo mehr für Gibbs war als nur ein Arbeitskollege – oder Freund. Er hatte es nicht direkt ausgesprochen, aber es war nicht zu übersehen. Also war der sonst so brummige Chefermittler doch nicht so gefühlskalt wie er es anderen gerne vormachte.
Fornell sah ihm direkt in die Augen und wusste, dass man seine Gedanken von seinem Gesicht ablesen konnte – ein Gesicht, das momentan Verblüffung widerspiegelte. Drei Ex-Frauen – die zweite hatte er selbst geheiratet, was ein riesiger Fehler gewesen war – und dabei hätte er anscheinend die ganze Zeit in einer anderen Richtung suchen müssen, um sein Glück zu finden.
Tobias schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Jethro", meinte er schließlich leise. „Dann halten Sie am Besten den Mund", erwiderte dieser und verfluchte sich ein wenig, dass er sich so gehen hatte lassen. Er hatte es am Gesicht des anderen erkennen können, dass diesem ein Licht aufgegangen war, was seine Gefühle für Tony betraf. Aber wenn es um seinen Freund ging – und noch dazu um dessen Leben – dann hatte er sich einfach nicht mehr unter Kontrolle. „Wenn Sie es jemanden verraten, können Sie Ihr Testament verfassen", fügte er drohend hinzu, grinste dabei aber. „Ich schweige wie ein Grab." Fornell war erleichtert, dass sich sein Gegenüber wieder beruhigt und ihm nicht den Kopf abgerissen hatte. Die neu gewonnene Erkenntnis musste er noch verarbeiten, aber dafür hatte er nachher noch Zeit.
„Ich werde Agent Sacks und Agent DeLay sagen, Sie sollen alle Informationen die wir über McDonald haben, so schnell wie möglich heraussuchen und Sie Ihnen bringen. Falls Sie Hilfe bei dem Fall brauchen, Sie können immer auf mich zählen." „Danke, Tobias", sagte Gibbs und Erleichterung durchflutete ihn. Nun, vielleicht hatte es auch ein Gutes, dass er dem anderen einen Blick hinter seine sonst so undurchschaubare Fassade gewährt hatte. Und er wusste, Fornell würde kein Wort darüber verlieren. Er stieß sich von der Wand ab und setzte den Fahrstuhl wieder in Gang.
„Kein Ursache", entgegnete der FBI Agent und grinste. „Und viel Glück mit… Sie wissen schon…" Eine Spur verlegen brach er ab, räusperte sich und da ihn Jethro lediglich ansah und ihm nicht den Hals umdrehte, fügte er hinzu: „Viel Glück mit Agent DiNozzo." „Ich dachte, Sie wollten schweigen wie ein Grab?" Aber trotzdem konnte sich Gibbs ein nicht Lächeln verkneifen. Egal wie oft er es leugnete, er mochte Fornell und ihre Freundschaft hatte vor ein paar Minuten eine höhere Stufe erreicht.
„Wollen Sie jetzt einen Kaugummi?" fragte Tobias und holte das Päckchen wieder hervor. „Wieso nicht", erwiderte Gibbs und nahm sich einen Streifen. Als sich ein paar Sekunden später die Türen öffneten, konnte man beiden Männer nicht ansehen, was vor kurzem zwischen ihnen vorgefallen war – sie hatten wieder ihre normalen griesgrämigen Mienen aufgesetzt.

Fortsetzung folgt...
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