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Seit etwas mehr als 10 Minuten saß ich regungslos im Auto und betrachtete das heruntergekommene Haus, von dem ich wusste, dass sich in seinem Inneren Gibbs aufhalten musste. Die Farbe der Fassade war schmutziggrau, mit bunten Graffitis verziert und hatte ihre besten Tage bereits hinter sich. Die Fenster im Erdgeschoss waren bis auf wenige Ausnahmen eingeschlagen und teilweise mit Brettern vernagelt worden. Die Glasscheiben der ersten und zweiten Etagen waren jedoch intakt, aber schmutzig, so als ob sich schon seit langem keiner mehr die Mühe gemacht hatte, sie zu putzen. Vom Schornstein war nur mehr die Hälfte übrig und es fehlten ein paar Dachziegeln, die schwarze Löcher hinterlassen hatten und durch die der Regen mühelos seinen Weg ins Innere finden konnte.
Die gesamte Umgebung des Hauses wirkte trist und verlassen. Es gab insgesamt ein halbes Dutzend Gebäude, die auf Grundstücken standen, die entweder von Maschendraht- oder morschen Bretterzäunen voneinander getrennt waren. Es gab kein Bauwerk, bei dem die Fenster heil gewesen wären und überall lag Unrat auf dem braunen abgestorbenen Gras herum. Die Pflastersteine der Wege, die zu den Einganstüren führten, waren im Laufe der Zeit von Unkraut gesprengt worden, das an einigen Stellen bereits knöchelhoch wucherte. In der gesamten Gegend war kein einziger Mensch zu sehen und man hatte auch nicht den Eindruck, dass sich hier jemand aufhalten würde. Aber es war allgemein bekannt, dass sich vor allem Drogensüchtige und Obdachlose in diese Häuser zurückzogen, um dahinzuvegetieren, sich den goldenen Schuss zu verpassen oder sich besinnungslos zu betrinken. Manchmal wurden hier Kämpfe der verschiedenen Straßengangs ausgefochten und wenn man das Pech hatte, sich in der Nacht hier alleine aufzuhalten, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass man ohne Brieftasche und Uhr und mit einer gebrochenen Nase im nächsten Krankenhaus landete – vorausgesetzt man überlebte die Begegnung mit dem Räuber, der für ein paar Dollar über Leichen ging. Es war die ideale Gegend, um einen Menschen zu verstecken, von dem man nicht wollte, dass er gefunden wurde. Die Personen hier kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten, scherten sich einen Dreck um die anderen und kamen nicht einmal jemandem zur Hilfe, der diese dringend benötigte. Es war mehr als offensichtlich, dass ich auf mich alleine gestellt war.
Mit Mühe riss ich meinen Blick von dem trostlosen Gebäude los und sah auf die Uhr des Armaturenbrettes. Ich hatte noch sieben Minuten, bis die Frist ablief und ich in dem Inneren des Hauses sein musste. Der Weg hierher war mit drei kleinen Staus und einem dichten Frühnachmittagsverkehr gepflastert gewesen. Je weiter ich mich jedoch dieser Gegend genähert hatte, desto weniger Autos waren auf der Straße unterwegs gewesen, bis ich schließlich der Einzige gewesen war. Würde mein Ford Mustang nicht noch vor meinem Haus stehen, hätte ich ihn sicher in der Tiefgarage des NCIS gelassen, denn die Chance, dass ich ihn ohne Reifen oder gar nicht mehr wiederfinden würde, war mehr als hoch. Über den Dienstwagen, indem ich saß, machte ich mir keine Gedanken, er gehörte mir immerhin nicht und unsere Bundesbehörde war gut gegen Diebstahl versichert.
Erneut blickte ich zu dem Gebäude und versuchte hinter einem der Fenster eine Bewegung auszumachen, aber nichts. Es gab zwar kein Anzeichen, dass sich dort drinnen jemand aufhielt, aber ich wusste es besser. Ich spürte regelrecht die Anwesenheit von Gibbs, genauso wie ich wusste, dass ich bald erfahren würde, wer hinter der ganzen Sache steckte.
Noch fünf Minuten – es wurde langsam Zeit. Ich nahm mein Handy vom Beifahrersitz und wählte McGees Nummer, der sich bereits nach dem ersten Klingeln meldete. „Ich bin es, Bambino. Wo seid ihr?" „Auf dem Weg zu dir. Wir brauchen noch ungefähr 20 Minuten. Trotz des Blaulichtes sind wir wegen einem Unfall in einem Stau gestanden und…" „Ich werde jetzt reingehen", unterbrach ich ihn, in der Befürchtung, er würde auch noch in einer Stunde weiterreden. „Seht zu, dass ihr euch beeilt. Ich habe nicht das Bedürfnis, hier in einem Leichensack weggebracht zu haben." „Keine Bange, Tony, wir werden rechtzeitig da sein. Außerdem funktioniert das Signal des Peilsenders hervorragend. Wir wissen demnach immer wo du bist." Ich schloss für ein paar Sekunden die Augen und ermahnte mich, etwas ruhiger zu sein. Meine Kollegen machten auch nur ihre Arbeit und sie würden verhindern, dass mir oder Gibbs etwas geschah. „In Ordnung", erwiderte ich freundlicher als vorher und setzte mich aufrechter hin. „Bis gleich." Bevor Tim noch etwas sagen konnte, legte ich auf und warf das Handy zurück auf den Beifahrersitz, da ich es nicht wirklich gebrauchen konnte. Das kleine Gerät, welches mir den ganzen Schlamassel eingebrockt hatte, steckte nach wie vor in meiner Hosentasche und würde vorerst auch dort bleiben.
Ich holte noch einmal tief Luft, bevor ich die Wagentür öffnete und mir kalte Luft entgegenschlug, aber dennoch entschied ich mich, meine Jacke auszuziehen. So konnten die Männer gleich sehen, dass ich unbewaffnet war und nicht vorhatte, sie reinzulegen – schon gar nicht, wenn es um Gibbs' Leben ging. Meine Pistole lag sicher verstaut in der obersten Schublade meines Schreibtisches und ich nur konnte hoffen, dass sich das FBI und meine beiden Kollegen beeilen würden, um mir Rückendeckung zu geben. Aber 20 Minuten konnten verflixt lange sein, vor allem wenn man Gefahr lief, getötet zu werden.
Mit einem leisen Geräusch schloss ich die Tür wieder und blieb für einen kurzen Moment stehen. Der Regen hatte aufgehört und die Wolken waren nicht mehr ganz so dicht und schwer, aber dennoch wirkte es hier düster, so als ob es selbst tagsüber nicht hell werden würde. Leichte Nervosität stieg in mir auf, gepaart mit der Angst vor der Ungewissheit, was mich in dem Inneren des Gebäudes erwarten würde. Aber nicht einmal der Weltuntergang würde mich aufhalten können, da jetzt reinzugehen.
Schritt für Schritt näherte ich mich dem Haus, wobei ich die Umgebung stets im Auge behielt, um nicht in einen Hinterhalt zu geraten. Es ließ sich zwar nirgendwo jemand blicken, aber dennoch hatte ich das Gefühl, dass ich beobachtet wurde. Stetig näherte ich mich dem halbverfallenem Bauwerk, bis ich schließlich die schiefen und ausgetretenen Stufen hinter mich brachte und meine Hand auf die Klinke der Tür legte, um sie hinunterzudrücken. Das Holz war morsch und hätte sicher einem harten Tritt nicht standgehalten. Die ehemalige braune Farbe war verblichen und erinnerte mich ein wenig an alten Lehm.
Ein weiteres Mal holte ich tief Atem, bevor ich die Tür langsam öffnete, die erbärmlich in den Angeln hing und mich durch ein Quietschen zusammenzucken ließ. Kühle, feuchte und nach Moder riechende Luft schlug mir entgegen und ließ mich beinahe wieder zurück taumeln. Zentimeter für Zentimeter schwang die Tür nach innen, bis sie den Blick in einen länglichen Vorraum freigab, an deren linker Seite eine Treppe aus dicken Holzbrettern nach oben führte, wobei das Geländer beängstigend schief hing. Auf den Wänden klebte eine Tapete, die bereits vergilbt war und irgendwann einmal weiß mit einem Blumenmuster verziert gewesen sein musste. Durch die Feuchtigkeit löste sie sich bereits von der Mauer und hing stellenweise in Fetzen herunter. Der Boden war mit einem zerschlissenen dunkelblauen Teppich ausgelegt, der ein paar Löcher und große Flecken aufwies. Es war düster und nicht einmal das Licht, welches durch die geöffnete Eingangstür fiel, konnte die Atmosphäre aufhellen.
Ich lauschte angestrengt, aber ich konnte kein Geräusch hören, keine Schritte, die sich mir näherten und ankündigten, dass ich nicht mehr alleine war. Hatte ich mir das Gefühl, beobachtet zu werden, etwa eingebildet? „Gibbs, wo bist du nur?" flüsterte ich und trat durch den Durchgang rechts von mir, der mich in ein Wohnzimmer führte, das überraschend freundlich eingerichtet war, zudem waren die Fenster heil. Zwar war der Teppich genauso durchgetreten, aber die Möbel, die auf ihm standen, waren zweifelsohne nicht sehr alt. In der Mitte des Raumes befanden sich zwei gemütlich aussehende Sofas, auf denen Polster und Decken lagen. Der Tisch war mit Fastfoodtüten, Pizzaschachteln und Getränkeflaschen übersät. In der rechten hinteren Ecke stand ein Schreibtisch mit einem Laptop darauf, der jedoch ausgeschaltet war. Zwar machte es auf mich nicht so den Eindruck, aber es musste sich her jemand eine Internetverbindung eingerichtet haben, wahrscheinlich ebenfalls unter falschem Namen. Zusätzlich gab es noch einen kleinen Fernseher und ein niedriges Bücherregal. Links gab es eine weitere Tür, die offen stand und mir einen Blick in eine abgenützte Küche gewährte. Aber es war nicht die alte Einrichtung, auf die ich mein Augenmerk legte, sondern auf den großen bulligen Mann, der mit der Hüfte an dem runden Tisch lehnte und eine Waffe in der Hand hielt, die genau auf mich zielte. Sein Gesicht war breit und wurde von einer krummen Nase dominiert, die mindestens zwei Mal gebrochen worden war. Der muskulöse Körper steckte in schwarzer Kleidung, die eine Nummer zu klein schien. Seine Lippen kräuselten sich zu einem gehässigen Grinsen und die dunklen kalten Augen verfolgten jede Bewegung meinerseits, als ich auf ihn zukam, bis ich schließlich die Küche betrat, in der überall benutztes Geschirr herumstand und in der es nach verbranntem Essen roch.
„Pünktlich auf die Minute", sagte er höhnisch und an seiner eisigen Stimme erkannte ich den Mann, der mich vor zwei Stunden angerufen und mir mitgeteilt hatte, dass Gibbs entführt worden war. Und dass er mir so bereitwillig sein Gesicht zeigte, bestärkte mich in der Vermutung, dass ich diesen Ort nicht lebend verlassen sollte. Mühsam schluckte ich den Kloß in meinem Hals hinunter, wobei ich nach außen hin weiterhin ruhig blieb. „Ich weiß doch, wie scharf Sie darauf sind, mich zu sehen und da dachte ich mir, ich kann Sie doch nicht warten lassen", erwiderte ich in meiner üblichen Art, weshalb mein Gegenüber seine Augen zu Schlitzen zusammenkniff. „Noch so jemand, der das Bedürfnis hat, seinen Mund zu weit aufzureißen, was? Bringen die euch beim NCIS keine Disziplin bei?" Seine Worte brachten mich beinahe zum Grinsen. So wie es aussah, hatte Jethro nicht geschwiegen, sondern gesagt, was er sich dachte und das hatte diesem Typen anscheinend nicht gerade gefallen.
„Wo ist Gibbs?" fragte ich und trat näher auf den Mann zu, der mich noch immer mit der Waffe bedrohte, sie aber ein wenig sinken ließ. „Nicht so schnell", meinte er, stieß sich von dem schmutzigen Tisch ab und ehe ich auch nur reagieren konnte, schlug er mir seine freie Hand ins Gesicht, so fest, dass ich benommen zur Seite taumelte. Eine Sekunde später schnappte er sich meinen rechten Unterarm, wirbelte mich herum und drehte ihn mir brutal auf den Rücken, sodass mir unwillkürlich ein Schmerzensschrei entfuhr. Mit dem Gesicht voran drückte er mich gegen die Wand und verstärkte seinen Griff noch mehr, bis ich das Gefühl hatte, er würde mir meinen Arm brechen. Der Lauf der Waffe wurde mir gegen meinen Nacken gedrückt und fauliger Atem peinigte meinen Geruchssinn. Aber anstatt mich weiter zu schlagen oder mich zu erschießen, presste er unerwartet seine Nase in meine Haare und schnupperte an ihnen. „Mmmm… du riechst echt gut", murmelte er in mein Ohr und ließ den Waffenlauf von meinem Nacken gleiten und fuhr mit ihm an meiner linken Körperseite nach unten und wieder hinauf, so als ob er mich liebkosen würde. „So unbeschreiblich sexy, so straffe Muskeln, so kraftvoll. Ich kann es gar nicht erwarten, meine Finger und meine Zunge so lange über deinen Körper wandern zu lassen, bis ich jede noch so verborgene Stelle berührt habe."
Ekel stieg in mir auf und ich begann mich gegen den eisernen Griff zu wehren, wobei mir ein stechender Schmerz durch meinen rechten Arm schoss, aber ich ignorierte ihn. „Wehr dich nur. Es wird dir aber niemand helfen können", flüsterte er weiter und berührte mein Ohrläppchen mit seiner Zungenspitze. Angewidert wollte ich meinen Kopf zur Seite drehen, aber sofort verstärkte er die Umklammerung um meinen Arm. „Gibbs hat es gar nicht gefallen, als ich ihm gesagt habe, dass ich mich mit dir amüsieren will", fuhr er fort, wobei seine Stimme heiser wurde, sich sein Körper fest gegen meinen Rücken presste und ich seine Erektion überdeutlich an meinem Gesäß spüren konnte. „Hat mich ein Schwein genannt." „Das sind Sie auch", zischte ich verächtlich. „Und Sie stinken aus Ihrem Mund wie ein Dutzend dieser Tiere." Ich ließ mir nicht anmerken, dass mich seine Worte, er wolle sich mit mir amüsieren, mehr als geschockt hatten. Mich ekelte schon alleine vor dieser Zunge, die vor kurzem meine Haut berührt hatte und die Vorstellung, dass mich dieser Typ überall angreifen wollte, ließ mich beinahe würgen. Ich konnte nur hoffen, dass das FBI noch auftauchen würde, bevor er seinen Plan in die Tat umsetzen würde.
Bei meiner nicht gerade netten Aussage über seine Mundhygiene, versteifte er sich und die Waffe wanderte zurück an meinen Nacken. Zusätzlich zog er meinen Arm noch weiter nach oben, bis mir selbst durch meine zusammengepressten Lippen ein leises Stöhnen entschlüpfte. „Es wird mir eine Freude sein, dich zu brechen", flüsterte er eiskalt. „Ich werde viel Spaß mit dir haben und du wirst noch lernen, deinen Mund zu halten." Er rieb seinen Körper provozierend an meinem Rücken, bevor er meinen Arm losließ und zurücktrat, aber trotzdem rührte ich mich für ein paar Sekunden nicht von der Stelle. Ich fühlte mich schmutzig und sehnte mich förmlich nach einer Dusche, die mich von diesem Gefühl befreite.
Hinter mir erklang ein Kichern, welches mich derart wütend machte, dass ich mich schließlich umdrehte und meine Hände zu Fäusten ballte, es aber unterließ, sie ihm ins Gesicht zu schlagen, da die Waffe erneut auf mich zielte. „Bevor wir zum amüsanten Teil des Tages kommen", sagte er und deutete mit seinem Kopf auf eine Tür, die ich vorher nicht gesehen hatte, „will dich vorher noch jemand sehen. Na los, vorwärts." Da ich mir sicher war, dass er erneut handgreiflich werden und mir dann wahrscheinlich doch noch den Arm brechen würde – worauf ich gut und gerne verzichten konnte - setzte ich langsam einen Fuß vor den anderen und ging an dem Mann vorbei, wobei ich mich mehr als unbehaglich fühlte, ihm den Rücken zuzukehren. Ich spürte regelrecht, wie seine Augen über meinen Körper wanderten, wie er mich förmlich mit seinen Blicken auszog und ich versuchte nicht daran zu denken, was er mit mir machen wollte und auch tun würde, falls das FBI nicht rechtzeitig hier auftauchen würde. Aber einfach würde ich es ihm sicher nicht machen, das schwor ich mir. Mit mir würde er sicher kein leichtes Spiel haben, da konnte er noch so viele Waffen in seinen Fingern halten.
Mit leicht zitternder Hand öffnete ich die Tür und sah eine Treppe aus nassem Beton vor mir, die in einen Keller hinunterführte. Noch mehr modrige Luft schlug mir entgegen und sie wurde um einiges kälter. Aber dennoch begann ich Stufe für Stufe hinunterzugehen, in dem Bewusstsein, dass dort unten Gibbs auf mich warten würde. Die Aussicht, ihn endlich wiederzusehen, ließ mich vergessen, in welcher Situation ich steckte.
Je weiter ich unter die Erdoberfläche kam, desto kühler wurde es und der modrige Geruch wurde stärker. Das einzige Licht kam von nackten Glühbirnen, die in regelmäßigen Abständen an der Decke angebracht worden waren und die eher eine Atmosphäre wie in einem Geisterhaus verströmten, als Behaglichkeit. Unsere Schritte hallten laut von dem Betongang wider, wobei sich der Mann hinter mir ziemlich schwerfällig bewegte und eher trampelte als zu gehen. Dass er sich so nahe bei mir befand, behagte mir gar nicht und ließ mich erschauern. Nur zu deutlich spürte ich noch immer seinen harten Griff um meinen rechten Arm, seine Erektion, die mir unmissverständlich klar gemacht hatte, dass er scharf auf mich war, und seine Zungenspitze, die mein Ohr berührt hatte. Ich hatte das starke Bedürfnis, genau an dieser Stelle ständig mit einer Hand darüber zu fahren, um seine DNA von meiner Haut zu entfernen, aber ich wusste, es würde ihn nur amüsieren und ihn wahrscheinlich noch mehr anturnen, wenn ich ihm zeigte, wie ich mich fühlte. Mittlerweile wünschte ich mir, ich hätte Fornell keine 15 Minuten Zeit gegeben, bis er und seine Männer eingriffen, sondern gleich gesagt, sie sollen zuschlagen – denn in einer viertel Stunde konnte so viel passieren.
Ich ballte meine Hände zu Fäusten und versuchte an etwas anderes zu denken als an den Typen hinter mir, dessen Atem ich in meinem Nacken spüren konnte. Allerdings verbannte ich ihn eine Sekunde später aus meinem Gehirn, als ich um eine Ecke bog und ein paar Meter vor mir eine offene Tür erkennen konnte, die mir einen Blick in den dahinterliegenden Raum gewährte. Unwillkürlich hielt ich die Luft an, als ich Gibbs sah, der noch immer von der Decke hing und seinen Kopf gedreht hatte, um uns entgegenzusehen.
Ich beschleunigte meine Schritte und stürmte beinahe in den Raum, in dem es nichts weiter als kahle Betonwände, Feuchtigkeit und Kälte gab. Meine gesamte Aufmerksamkeit galt jedoch meinem Freund, der mich aus seinen blauen Augen ansah, in denen es beruhigend lebend funkelte. Auf seiner linken Wange – genauso wie am Unterkiefer - prangte eine Prellung, die meiner eigenen ganz schön Konkurrenz machte. Dünne Rinnsale von Blut bedeckten seine bloßen Unterarme. Das Seil, das um seine Handgelenke gewickelt war, hatte sich unübersehbar in seine Haut gegraben und diese aufgeschürft. Obwohl es nur oberflächliche Verletzungen waren, stieg in mir eine unglaubliche Wut auf, die ich jedoch hinunterschluckte, als ich mich an Duckys Worte erinnerte. Ich durfte mich nicht von meinen Gefühlen leiten lassen, auch wenn ich es gerne tun würde.
Meine gesamte Konzentration hatte Gibbs gegolten, sodass ich den zweiten Mann, der sich hier aufhielt, erst nach ein paar Sekunden bemerkte. Im Gegensatz zu Jethro, dessen Kleidung ein wenig verdreckt und feucht war, war dieser wie aus dem Ei gepellt. Mein Blick glitt von dem teuren Anzug über die perfekt sitzende Krawatte zu einem Gesicht, das ich erst vor ein paar Stunden zum ersten Mal gesehen hatte. Meine Muskeln versteiften sich und ich hatte das Gefühl, als ob mich jemand in ein großes Becken mit eiskaltem Wasser getaucht hätte. Mir wurde unbeschreiblich kalt und Unglauben stieg in mir auf, als ich wie erstarrt den jungen Mann vor mir betrachtete, der noch vor kurzem Scherze gemacht und sich unbeschwert mit mir unterhalten hatte. Allerdings konnte ich von der Freundlichkeit von heute Vormittag nichts mehr erkennen, sie war verschwunden, genauso wie der warme Ausdruck in den graublauen Augen. Und mit einem Mal wurde mir klar, weshalb er mich für eine Sekunde eiskalt angesehen hatte, als ich das Handy erwähnt hatte, mir wurde klar, weshalb ich in Bezug auf ihn ein ungutes Gefühl gehabt hatte und vor allem wurde mir klar, dass ich keine Gnade erwarten konnte. Wieso hatte ich nur meinen Instinkt ignoriert? Wieso hatte ich nur meinen Mund gehalten? Andererseits, wer hätte mir schon geglaubt, dass hinter einem freundlichen FBI Agenten ein skrupelloser Mörder steckte? Wäre ich doch nur meiner ersten Eingebung gefolgt, dann wäre die ganze Sache bereits ausgestanden und Gibbs wäre nie entführt worden – und ich wäre nie von einem Kerl angefasst worden, der aus seinem Mund schlimmer als eine ganze Müllhalde stank und der sich sichtlich darauf freute, seine geheimen Fantasien mit mir auszuleben.
Ich verdrängte die nicht gerade rosigen Zukunftsaussichten und blickte DeLay fest in seine Augen, was ihm jedoch nur ein breites Grinsen entlockte. „Schön, dass Sie uns auch noch beehren, Agent DiNozzo", sagte er mit überraschend freundlicher Stimme. „Jetzt kann die Party endlich beginnen." Und dann fing er an lauthals loszulachen, so eiskalt, dass sich mir sämtliche Nackenhärchen aufstellten und sich die fette Ratte, die in einer Ecke mit ihren kleinen Pfoten herumgescharrt hatte, das Weite suchte.

Fortsetzung folgt...
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