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Washington D.C.
Montag, 20. Juni
05:25 Uhr


Obwohl es erst kurz vor halb sechs Uhr morgens war, wanderte die Sonne bereits über den Horizont und überzog den Himmel mit einer herrlichen blutroten Farbe. Die Luft war für diese frühe Zeit ungewohnt warm und es versprach ein wunderschöner Tag zu werden. Zahlreiche Vögel begannen ihr Konzert zu veranstalten und produzierten dadurch einen Lärm, der in der sonst so stillen Umgebung besonders laut erschien. Überall konnte man satte, grüne Wiesen, bunte Blumen und mit dichtem Blattwerk bedeckte Bäume bewundern, die nach dem lang anhaltenden Regen wieder zu neuem Leben erwachten. Von den grauen Wolken, die lange über Washington gehangen und auf das Gemüt der Bewohnter gedrückt hatten, war keine Spur mehr zu sehen und sie hatten einen wunderschönen blauen Himmel zurückgelassen. Die Luft roch angenehm frisch, die Sonne hatte ihre Kraft zurückgewonnen und wärmte den Erdboden mit ihren Strahlen. Waren vor ein paar Tagen noch Jacken und Schirme in Mode gewesen, so wurden diese wieder in die Schränke verbannt und von leichten T-Shirts, kurzen Hosen und Miniröcken ersetzt.
Vor den zahlreichen Cafés waren wieder Tische und Stühle aufgestellt worden, die ständig besetzt waren. Um sich einen Platz zu ergattern, musste man sich hin und wieder anstellen und warten, bis endlich einer frei war, um sich ein Eis oder ein kühles Getränk zu gönnen. Waren die Menschen noch vor kurzem lieber ins Kino gegangen, um dem trostlosen Wetter zu entfliehen, so besuchten sie jetzt Parks und tankten neue Kraft durch die warme Luft.
Das vergangene Wochenende war von vielen genutzt worden, um sich zu erholen und mit ihren Familien und Freunden Picknicks zu veranstalten. Es hatte nicht viele Personen gegeben, die bei diesem herrlichen Wetter in ihren Häusern geblieben waren - nicht einmal Gibbs hatte sich in seinen vier Wänden verbarrikadiert, um vielleicht an seinem Boot weiterzubauen. Selbst ihn hatte es nach draußen verschlagen, um sich von den Strapazen der letzten Tage zu erholen – immer in Begleitung von Tony, der ihm keine einzige Minute von der Seite gewichen war. Hatte er es vor kurzem gar nicht ausstehen können, ständig jemanden um sich zu haben, so hatte sich das mittlerweile geändert. Er genoss die Nähe seines Freundes, denn diese zeigte ihm, dass sie beide noch am Leben waren, dass sie die Ereignisse von letztem Donnerstag mehr oder weniger unbeschadet überstanden hatten.
Während draußen die Sonne immer weiter über den Horizont kletterte, stand Jethro unter der Dusche und ließ die warmen Wasserstrahlen auf seine Haut einprasseln. Er hatte sich mit den Armen an der Wand abgestützt, den Kopf nach unten hängend und die Augen fest geschlossen. Obwohl er erst vor kurzem zusammengeschlagen, mit einem Elektroschocker betäubt und fast erschossen worden war, fühlte er sich so entspannt wie noch nie. In seinen Muskeln befand sich kein einziger harter Knoten – dank einer ausgiebigen Massage von Tony – und er hatte das erste Mal seit langem vier Nächte hintereinander in einem Bett geschlafen und nicht auf dem Boden in seinem Keller, wo er des öfteren unter seinem Boot in das Land der Träume entflohen war. Deshalb fühlte er sich jetzt auch nicht wie durch den Fleischwolf gedreht, ungeachtet dessen, dass es erst kurz vor halb sechs Uhr am Morgen war. Es wäre ja nicht so, dass Gibbs nicht mehr schlafen hätte können, aber heute hatte er einen guten Grund dafür, weshalb er so bald aufgestanden war und dieser Grund lag noch immer in seinem großen Bett und schnarchte leise vor sich hin. Ein Lächeln bildete sich auf seinen Lippen, als er an Tony dachte, der nicht einmal mitbekommen hatte, dass er momentan alleine im Schlafzimmer war. Es war unglaublich, dass dieser so tief schlafen und ihn wahrscheinlich nicht einmal eine Kanonenkugel aufwecken konnte.
Jethro seufzte leise und trat einen kleinen Schritt nach vorne, um die Strahlen auf seinen Rücken prasseln zu lassen. Die Wärme verdrängte auch den letzten Rest von Müdigkeit aus seinem Körper und hinterließ nichts anderes als ein wohliges Gefühl – abgesehen von einem leichten Brennen seiner Handgelenke. Die Haut war an dieser Stelle weiterhin wund und noch nicht verheilt. Eigentlich hätte er einen Verband tragen müssen, aber diesen hatte er abgenommen, um ihn nicht nass werden zu lassen. Außerdem war es sowieso an der Zeit gewesen, ihn zu wechseln und er war sich sicher, Tony würde ihm nachher dabei helfen. Dieser war in den letzten Tagen unglaublich fürsorglich gewesen und hatte sogar dafür gesorgt, dass sie drei Mal täglich etwas zu Essen auf den Tisch bekommen hatten – wobei er jedes Mal selbst am Herd gestanden und gekocht hatte. Aber er hatte nicht protestiert, als Gibbs ihm einfach geholfen hatte. Diese gemeinsame häusliche Tätigkeit hatte sich unerwartet gut angefühlt und hatte ihn auf eine Art und Weise ausgefüllt, mit der er nie gerechnet hätte.
Sein junger Freund hatte sich wie immer verhalten, hatte seine Späße gemacht, blöde Sprüche zum Besten gegeben und hatte Jethro damit gleichzeitig zum Lachen und auf die Palme gebracht. Man hätte meinen können, es wäre nie etwas geschehen, der letzte Donnerstag hätte nie stattgefunden. Nur die oberflächlichen Verletzungen wiesen darauf hin, was beide durchgemacht hatten, wobei das Geschehen sich mittlerweile wie ein böser Albtraum anfühlte. Aber dennoch ballte Gibbs unwillkürlich seine Hände zu Fäusten, als er an den kalten, feuchten Keller dachte, an seine Hilflosigkeit und die ohnmächtige Wut, die in ihm aufgestiegen war, als Gary Tony vor seinen Augen angefasst und mit seiner Zunge über seinen Hals gefahren war. In diesem Moment hätte er beinahe die Kontrolle über sich verloren und wäre er nicht gefesselt gewesen, hätte er dem Mann höchstwahrscheinlich eigenhändig den Hals umgedreht, so lange, bis sein Genick gebrochen wäre. Die Panik, die seinen Freund überkommen hatte, als dieser gegen seinen Willen berührt worden war, hatte sich auf ihn übertragen und war noch größer geworden, als Anthony aufgehört hatte, sich zu wehren. Jethro hatte in diesem Moment ungläubiges Entsetzen gepackt und er hatte nicht verstanden, weshalb er das machte, weshalb er einfach so dagestanden war und alles über sich hatte ergehen lassen. Als ihn jedoch ein paar Sekunden später ein Blick aus grünen Augen getroffen hatte, hatte er verstanden, weshalb Tony keine Gegenwehr mehr leistete, auch wenn es ihn immense Anstrengung gekostet hatte, sich gegen den Griff nicht weiter aufzulehnen. Das laute Knacken, als er schließlich Garys Nase mit einem einzigen Schlag gebrochen hatte, hatte den Chefermittler mit Genugtuung erfüllt, welche gleich darauf aber wieder verschwunden war, als DeLay eingegriffen und Anthony in Schach gehalten hatte, während der bullige Mann mit einer Waffe auf Gibbs gezielt hatte - und er hatte geahnt, dass es zu Ende gehen würde. Zwar war ihm bewusst gewesen, dass Verstärkung unterwegs sein musste, aber er hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass sie noch rechtzeitig eintreffen würde. Und je mehr Sekunden verstrichen waren, desto ruhiger war er geworden, hatte akzeptiert, dass er wohl sterben würde und deswegen Tony seine gesamte Aufmerksamkeit geschenkt. Wenn er schon in diesem Keller sein Leben verlieren würde, dann sollte es sein Freund sein, dessen Gesicht er als Letztes sehen würde, bevor er für immer in Dunkelheit versinken würde. Aber eine höhere Macht hatte wohl Einsehen gehabt und nicht ihn, sondern Gary sterben lassen. Gibbs war noch nie so froh gewesen, Fornell zu sehen, wie in diesem Moment. Von da an hatte er gewusst, dass alles gut werden würde, dass sie endlich gerettet waren. DeLays Gesicht, als er erkannt hatte, dass er verloren hatte, hatte ihn für die Strapazen ein wenig entschädigt und er wusste, dieser Mann würde es im Gefängnis nicht leicht haben – eine weitere Genugtuung.
Jethro seufzte leise und hob seinen Kopf, um das Wasser über sein Gesicht laufen zu lassen. Es war die erste Dusche seit Tagen, die er alleine machte. Sonst war Tony immer bei ihm gewesen, aber diesmal lag dieser noch im Bett und schlief tief und fest. Ihm würde es sicher nicht gefallen, in ein paar Minuten aufgeweckt zu werden, aber Gibbs hatte eine kleine Überraschung für ihn und es war unumgänglich, dass sie etwas früher losfuhren, wollte er seinen Plan in die Tat umsetzen. Anthony würde nicht gerade erfreut sein, derart bald loszumüssen, aber die Entschädigung, die er dafür erhalten würde, würde ihm sicher gefallen. Ursprünglich war es auch seine Idee gewesen und diese hatte sich in Jethros Kopf festgesetzt und ließ ihn nicht mehr los, seit er davon erfahren hatte. Und dabei hatte er fast schon geglaubt, er würde in nächster Zeit keine Möglichkeit erhalten, seine Vorstellungen auszuleben, hatte er doch Angst gehabt, Anthony würde seine Berührungen nicht genießen können – nicht nachdem er gegen seinen Willen von einem anderen Mann angefasst worden war. Aber er hatte sich noch nie geirrt. Bereits bei der Autofahrt zurück ins Hauptquartier hatte er sich an ihn gekuschelt und war sogar eingeschlafen.
Zwei Stunden später hatten sie ein paar von Tonys Sachen aus seinem Haus geholt – er wollte für ein paar Tage aus seinen eigenen vier Wänden verschwinden, die ihn zu sehr daran erinnert hätten, was vorgefallen war – und zu Gibbs gebracht. Das Erste, was sie gemacht hatten, war eine heiße Dusche zu nehmen, um sich den ganzen Dreck und das Blut abzuwaschen. Dabei hatte Jethro die ganze Zeit Angst gehabt, seinen Freund zu berühren, aus der Befürchtung heraus, dieser würde nicht seine Hände, sondern die von Gary spüren, würde den Mann vor sich sehen, der ihn vergewaltigen wollte. Der Chefermittler hatte hinter ihm gestanden und es nicht fertig gebracht, seine Hände zu heben, wollte er doch keine unangenehmen Erinnerungen wecken. Aber es war schließlich Anthony gewesen, der seine Nähe gesucht hatte, der einen Schritt nach hinten gemacht und seinen Rücken an Gibbs' Körper gepresst hatte. Er war es gewesen, der seinen Kopf an seine Schulter gelegt, seinen Mund an sein Ohr gebracht und „Liebe mich" geflüstert hatte. Für einen Moment waren nur ihr beider Atem und das Rauschen des Wassers zu hören gewesen, bis er seine Worte wiederholt hatte, diesmal mit einem leicht flehenden Ton in der Stimme. Und als Jethro nicht schnell genug reagiert hatte, hatte sich Tony umgedreht und ihn mit einer Leidenschaft geküsst, die ihn ganz schwindelig gemacht hatte. Da hatte er begriffen, dass ihn sein Freund brauchte, dass er spüren wollte, dass sie beide noch am Leben und in Sicherheit waren - und er hatte ihm diesen Wunsch erfüllt. Er hatte mit einer Hingabe den muskulösen Körper erforscht, der beiden den Atem geraubt hatte und hatte besonders den Stellen Aufmerksamkeit geschenkt, die Gary angefasst hatte, um die Erinnerungen an dessen Berührungen durch seine zu ersetzen. Anthony war wie Wachs in seinen Händen gewesen und hatte auf jede noch so kleine Streicheleinheit mit einer Intensität reagiert, die er nie für möglich gehalten hätte. Und Jethro hatte ihn schließlich geliebt, mit einer Zärtlichkeit, die beide überrascht hatte – mit langsamen Stößen, die erregender als grenzenlose Leidenschaft gewesen waren. Der Höhepunkt seines Freundes hatte ihn selbst in den Abgrund gerissen und hatte beide den Boden unter den Füßen weggezogen. Er wusste bis heute nicht, wie sie es danach ins Schlafzimmer geschafft hatten. Nach diesem Liebesakt war der alte Tony wieder da gewesen, der Tony, der ihn mit seinen Sprüchen immer auf die Palme brachte und der für jeden Spaß zu haben war. Es war beinahe so, als ob er mit diesem einen Höhepunkt all die Erinnerungen an Gary in einen hinteren Teil seines Gehirns verbannt hätte und Gibbs hätte sofort gemerkt, hätte er ihm nur etwas vorgemacht – was aber nicht der Fall gewesen war. Und somit hatten beide die drei freien Tage mehr als genossen, waren zusammen spazieren gegangen, hatten gekocht, waren einkaufen gewesen und hatten sich jeden Abend geliebt, wobei sie es einmal nicht mehr ins Schlafzimmer geschafft hatten, nachdem Jethro Anthony eine kleine Lektion im Boote bauen gegeben hatte. Diesmal war ihm der Boden seines Kellers gar nicht so hart vorgekommen.
Ein breites Grinsen bildete sich auf seinen Lippen und er öffnete seine Augen. Der Dampf im Bad hatte sich mittlerweile verdichtet und legte sich wie ein feiner Nebel auf die Einrichtung und auf den weißen Fliesenboden. Es war an der Zeit, endlich die Dusche zu verlassen und Tony aus dem Reich der Träume zu holen. Bevor sich Gibbs anders entscheiden konnte, drehte er das Wasser ab, stieg aus der Dusche und schnappte sich eines der Handtücher, um es sich über die Hüfte zu wickeln. Anschließend stellte er sich vor den Spiegel, wischte darüber und musterte sein Gesicht. Die beiden Prellungen waren noch immer deutlich zu sehen, wechselten aber langsam von einem intensiven Blau zu einem Gelbton. Trotz der Verletzungen merkte er selbst, dass er einen entspannten Gesichtsausdruck hatte und dass seine Augen ungewohnt glücklich funkelten. Kein Wunder, dass Abby gleich gemerkt hatte, dass er verliebt war, so wie er momentan aussah. Es hatte ihn auch nicht sonderlich überrascht, als er erfahren hatte, dass sie es von alleine herausgefunden hatte, dass er mit Tony zusammen war – eher hätte es ihn gewundert, wenn dies nicht der Fall gewesen wäre.
Gibbs wandte sich von dem Spiegel ab, trocknete sich in Rekordzeit ab und öffnete die Tür, um in den Gang hinauszugehen, nur um gleich darauf das Schlafzimmer zu betreten. Seit er es vor ein paar Minuten verlassen hatte, hatte sich nichts an dem Bild verändert, außer dass die Sonne weiter über den Horizont geklettert war und den Raum nun in ein sanftes Licht tauchte. Auf dem großen Bett, welches auf der linken Seite an der Wand stand, lag Tony auf dem Bauch, den Kopf – dessen Haare in alle Richtungen abstanden und vom Schlaf zerzaust waren - zu der Tür gedreht, die Augen geschlossen und den Mund leicht geöffnet. Seinen rechten Arm hatte er unter dem Polster vergraben, während der linke neben seinem Kopf ruhte. Das Laken war bis auf seine Hüfte hinuntergerutscht und entblößte seinen muskulösen Rücken, der in der aufgehenden Sonne brauner wirkte, als er eigentlich war.
Für ein paar Sekunden lehnte sich Gibbs gegen den Türrahmen und nahm das friedliche Bild in sich auf. Sein Herz begann unwillkürlich schneller zu schlagen und er hätte lügen müssen, wenn er behauptet hätte, jetzt keine Schmetterlinge im Bauch zu haben. Es war ihm mehr als bewusst, dass nicht viel gefehlt hätte und er würde in diesem Augenblick nicht hier stehen und seinen schlafenden Freund betrachten. Er hatte sogar Fornell angerufen, um ihn zu danken, dass er ihm das Leben gerettet hatte, was dieser mit einem verlegenen Räuspern zur Kenntnis genommen und gleich darauf gefragt hatte, ob es dem Chefermittler gut gehe. Es kam immerhin nicht oft vor, dass sich dieser bedankte und schon gar nicht bei einem FBI Agenten. Dieser hatte ihm sogar angeboten, an dem Verhör von DeLay teilzunehmen, aber er hatte es abgelehnt. Er wollte einfach nur vergessen und bei Tony sein, der ihn dringender brauchte und auch wichtiger als irgendein Verhör war.
Mit einem Lächeln auf den Lippen löste sich Gibbs von dem Türrahmen und ging langsam über den cremefarbenen Teppich auf das Bett zu, wo er sich vorsichtig – um seinen Freund nicht zu wecken – seitlich auf die Matratze legte, sich auf seinen linken Ellenbogen abstützte und seinen Kopf in seine Hand legte. Unwillkürlich holte er tief Luft und sog den Duft von Tony ein, der sich leicht in dem Schlafzimmer ausgebreitet hatte. Jetzt roch er nicht mehr nach Vanille, sondern nach Kokos, ein Aroma, das ihn ständig an lange Sandstrände, türkisblaues Meer und Palmen erinnerte. Und er hatte ständig das Bedürfnis, an Anthonys Haut zu knabbern, um den Geschmack in sich aufzunehmen. Er hatte gar nicht gewusst, dass Kokos so verführerisch sein konnte. Wenn er ehrlich war, war er dem jungen Mann vor ihm bereits verfallen und er fühlte sich deswegen glücklich wie noch nie zuvor – jedenfalls seit Shannons und Kellys Tod. Damals hatte er gedacht, nie wieder wirklich Freude am Leben zu haben und hatte sogar versucht, sich mit seiner eigenen Waffe zu erschießen, wollte dem grenzenlosen Schmerz des Verlustes ein Ende setzen. Aber eine innere Stimme hatte ihn davon abgehalten und er konnte einfach nicht abdrücken – manchmal hatte er sich sogar dafür gehasst. Jetzt wusste er allerdings, weshalb er weiterhin am Leben war und der Grund befand sich nur ein paar Zentimeter von ihm entfernt. Tony hatte eine Tür zu seinem Herzen aufgestoßen, von der er geglaubt hatte, sie wäre für immer verschlossen, aber er hatte sich gerne eines Besseren belehren lassen.
Langsam streckte Gibbs seinen rechten Arm aus und fuhr mit seinem Zeigefinger sachte über Anthonys Wange. Vermochte ein noch so lauter Schuss – oder das Konzert der Vögel draußen - ihn nicht zu wecken, so würde es diese sanfte Berührung allemal schaffen. Langsam ließ er seinen Finger über die Haut gleiten, immer weiter hinunter, bis er die weichen Lippen erreicht hatte, von denen er nie genug bekommen konnte. Zärtlich fuhr er sie entlang, bis sie sich nach wenigen Sekunden zu einem Lächeln verzogen, das seinen Puls in die Höhe schießen ließ. Gleich darauf hoben sich Tonys Lider und grüne, noch vom Schlaf verhangene Augen, begegneten Jethros Blick.

Eine sanfte Berührung an meinen Lippen riss mich aus einem tiefen und traumlosen Schlaf. Ich spürte, wie ein Finger immer wieder über meinen Mund fuhr und ihn liebkoste, weshalb ich nicht anders konnte, als ihn zu einem Lächeln zu verziehen. Es war nicht schwer zu erraten, wer sich da solche Mühe gab, mich aufzuwecken. In dem Bewusstsein, wer neben mir lag, öffnete ich blinzelnd meine Augen und blickte in die blauen von Gibbs, die mich voller Liebe anfunkelten. Seine Haare waren feucht, einzelne Wassertropfen hatten sich auf seine Schultern verirrt und rannen langsam seine Brust hinab. Es war unübersehbar, dass er frisch aus der Dusche kam. Der Geruch seines Duschgels stieg mir angenehm in die Nase und ließ mich mehr und mehr in die Wirklichkeit zurückkehren. Erst jetzt bekam ich so richtig mit, dass die Sonne bereits am Aufgehen war und das Schlafzimmer – das in den letzten vier Nächten mein zu Hause geworden war - in immer helleres Licht tauchte und Jethros Haare schimmern ließ. Die Prellungen in seinem Gesicht begannen langsam zu verblassen und würden in den nächsten Tagen sicher verschwinden, um nur mehr eine unangenehme Erinnerung zu sein.
Die Geschehnisse des vergangenen Donnerstages waren mehr als präsent und kamen ständig an die Oberfläche, aber ich schaffte es immer wieder sie zurückzudrängen, genauso wie ich es geschafft hatte, darüber hinwegzukommen, dass ich kurz davor gestanden hatte, vergewaltigt zu werden. Zuerst hatte ich geglaubt, es würde einige Zeit dauern, bis mich Jethro wieder liebkosen konnte, ohne dass ich an Gary denken musste, aber unsere gemeinsame heiße Dusche hatte mich eines besseren belehrt. Der Drang, dass er mich berührte, dass er mich liebte, war übermächtig gewesen. Ich hatte genau gespürt, dass Gibbs Angst gehabt hatte, seine Hände über meinen Körper fahren zu lassen, in der Annahme, ich würde nicht seine Finger sondern die von Gary spüren. Anfangs hatte ich das selbst angenommen, aber als er sich schließlich dazu durchgerungen und mir meinen Wunsch, mich zu lieben, erfüllt hatte, war es nur mein Freund gewesen, den ich gefühlt hatte, waren es seine Hände und seine Zunge, die ich gespürt und die mir heiße Lust durch meinen Körper gejagt hatten. Er war unglaublich zärtlich gewesen – eine Seite an ihm, die man nie vermutet hätte, sah man ihn in der Rolle des Bundesagenten, wo er knallhart und ohne zu zögern einen Verbrecher ins Gefängnis brachte – oder ihn erschoss, wenn es die Situation erforderte. Aber in den letzten Tagen war eine Seite von ihm zum Vorschein gekommen, die ich genauso liebte wie den Chefermittler, der mich herumscheuchte und mir Kopfnüsse verpasste.
Gibbs fuhr noch immer mit seinem Zeigefinger über meine Lippen, weshalb ich sie öffnete und ihn in meinen Mund aufnahm, um ihn leicht mit meiner Zunge zu kitzeln. Seine Augen verengten sich ein wenig und ich konnte sehen, dass er hart schluckte, was mich noch breiter Lächeln ließ. Zärtlich saugte ich an dem Finger, knabberte mit meinen Zähnen daran und das leise Stöhnen, das sich seiner Kehle entrang, jagte mir einen heißen Schauer durch meinen Körper. Wenn es nach mir ging, hätten wir ewig so daliegen können, uns einfach nur in die Augen schauend und Jethros Finger in meinem Mund. Aber schließlich zog er ihn zurück und ersetzte ihn durch seine Lippen, die natürlich noch viel besser waren. Ich hob ihm meinem Kopf entgegen und ließ meine Zunge mit seiner spielen, bis wir beide keine Luft mehr bekamen und uns voneinander lösten mussten.
Gibbs legte mir sanft seine rechte Hand auf meine Wange und erst da bemerkte ich, dass er den Verband um seine Gelenke abgenommen hatte. Die Verletzung war noch nicht verheilt, die Haut wund und rot, aber auch das würde irgendwann verschwinden, um nur eine weitere unangenehme Erinnerung zu sein.
„Soll ich dich nachher verarzten?" fragte ich mit noch vom Schlaf leicht heiserer Stimme und streichelte sanft über sein Handgelenk. „Wenn du möchtest", erwiderte er, nahm seine Hand von meiner Wange und verschränkte seine Finger mit den meinen. „Und wenn du ein braver Patient bist, bekommst du nachher auch einen schönen starken Kaffee", sagte ich und ahmte dabei einen Kinderarzt nach, der versuchte, die Kleinen dazu zu animieren, folgsam zu sein und die Behandlung ohne große Quengelei über sich ergehen zu lassen.
Meine Worte entlockten Jethro ein leises Lachen und er beugte sich zu mir herunter. „Und einen Kuss?" „Vielleicht", meinte ich mit leiser Stimme und grinste breit. „Und wenn du mir heute während der Arbeit keine Kopfnuss verpasst, dann gibt es zur Belohnung mehr als einen Kuss. Au!" Blitzschnell hatte er seine Hand von meiner gelöst und mir damit auf meinen Hinterkopf geschlagen, den ich mir jetzt murrend rieb. „Habe ich dir schon einmal gesagt, dass ich es liebe, wenn du diese Geräusche machst, wenn ich dir eine Kopfnuss verpasse?" fragte Gibbs, legte sich auf den Rücken und musterte mich eingehend. „Ach, deshalb bekomme ich immer so viele." Mein Grinsen kehrte wieder zurück und ich setzte mich auf, nur um gleich darauf zu gähnen und mich ausgiebig zu strecken. Dabei wanderte mein Blick über seinen Körper und zu meiner Freude hatte er es versäumt, sich nach der Dusche anzuziehen, weshalb er sich in all seiner Pracht präsentierte. „Ich schätze mal, ich kann dir verzeihen, dass du mir einen Klaps verpasst hast", sagte ich und fuhr aufreizend mit meiner Hand über seinen Oberkörper. „Na, das will ich auch hoffen. Außerdem sind wir nicht in der Arbeit." Grummelnd musste ich ihm Recht geben, als ich an meine eigenen Worte zurückdachte. Aber wenn ich ehrlich war, konnte er mir noch so viele Kopfnüsse verpassen und ich würde ihn trotzdem nicht von der Bettkante stoßen.
Ich ließ meine Hand immer weiter abwärts gleiten, als ich plötzlich inne hielt, als mein Blick auf den Wecker fiel, der auf dem Nachttisch stand und der sich auf Gibbs' Seite des Bettes befand. Ungläubig riss ich meine Augen auf und sah schließlich zu meinem Freund, der mich amüsiert musterte. „Es ist erst kurz nach halb sechs?" fragte ich, nahm meine Hand von seinem Körper und fuhr mir damit durch meine Haare, wobei ich sie noch mehr zerzauste. „Warum weckst du mich in dieser Herrgottsfrühe auf? Wir könnten locker noch eine halbe Stunde schlafen." Meine Stimme klang ein wenig vorwurfsvoll, was ihn aber nicht im Geringsten zu stören schien. „Du weißt schon, dass wir erst um sieben Uhr anfangen, oder?" „Aber sicher weiß ich das", antwortete er ruhig und verschränkte seine Arme hinter seinem Kopf. „Und weshalb…?" Aber ich schaffte es nicht, meine Frage fertig zu stellen, da er mich unterbrach – mit Worten, die ich von ihm nie erwartet hätte und die mich verblüffter nicht machen könnten. „Weil ich eine kleine Überraschung für dich habe." Mir klappte der Mund so weit hinunter, dass ich beinahe McGee Konkurrenz machte, dem es nicht anders ergangen war, als er erfahren hatte, dass Gibbs und ich zusammen waren. Irgendwie schaffte ich es, mich zu räuspern und hervorzubringen: „Du… Überraschung? Für mich?" Mein Gehirn war für einen Moment nicht fähig, ganze Sätze zu bilden und ich wusste auch nicht, ob ich es jemals wieder lernen würde.
Jethro nickte und schien sich nach dem belustigten Funkeln in seinen Augen köstlich zu amüsieren. „Und… und ich dachte, du hasst Überraschungen", sagte ich schließlich, weiterhin stotternd. „Ich mache gerne einmal eine Ausnahme", erwiderte er und setzte sich auf. „Okay. Wer sind Sie und was haben Sie mit Gibbs gemacht?" Dieser konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Glaub mir, ich bin immer noch derselbe und wurde nicht durch einen Doppelgänger ersetzt." Ich schüttelte ungläubig den Kopf, bis ich endlich realisierte, was seine Worte bedeuteten. Auf meinen Lippen breitete sich ein Kleinjungengrinsen aus und ich begann mich tierisch zu freuen. „Was ist es denn für eine Überraschung?" wollte ich aufgeregt wissen und blickte ihn flehend an, in dem Versuch, es mir zu verraten. „Wenn ich es dir jetzt sagen würde, wäre es keine Überraschung mehr", erwiderte Jethro und hob eine Augenbraue, angesichts meiner kindlichen Begeisterung. „Komm schon. Verrate es mir." Ich setzte meinen Dackelblick auf, gegen den er nicht immun war, weshalb er ganz schnell seine Beine über das Bett schwang und aufstand, wodurch er mir einen fabelhaften Blick auf seine Kehrseite gewährte. „Gibbs! Jetzt sag schon!" quengelte ich, mir nicht einmal bewusst, dass ich mich wie ein stures Kleinkind verhielt.
„Je schneller du aufstehst, desto eher wirst du es erfahren", meinte er beinahe ungerührt, ging zum Schrank und suchte sich frische Kleidung. „Aber du kannst ruhig im Bett liegen bleiben, Tony. Dann musst du wohl auf ein anders Mal warten." Ich wusste, ich würde nichts aus ihm herausbringen, egal wie hartnäckig ich nachbohrte, außer ich würde ihn auf Kaffeeentzug setzen, aber dann würde ich wahrscheinlich nicht mehr lange leben. Mich meinem Schicksal ergebend schlug ich die Bettdecke zurück und stand auf, wobei Jethro mich genau betrachtete, so wie ich vorhin jeden Zentimeter seines Körper gemustert hatte. Als ich ihn erreicht hatte, zog er mich blitzschnell in seine Arme und küsste mich leidenschaftlich. „Habe ich dir schon einen guten Morgen gewünscht?" fragte er nahe an meinen Lippen. „Nein, hast du nicht", erwiderte ich leise und ein wenig atemlos. „Guten Morgen, Tony", holte er das Versäumte nach und glättete ein wenig meine zerzausten Haare. „Dir auch einen guten Morgen, Jethro." Mit den Zähnen knabberte ich leicht an seiner Unterlippe, bevor ich mich darauf entsann, weshalb ich zu so einer frühen Stunde aus dem Bett geschmissen worden war. Deshalb trat ich rasch einen Schritt zurück. „Und jetzt lass uns keine Zeit mehr vergeuden", sagte ich und kramte im Schrank, um mir meinerseits Kleidung zu suchen. „Wird mir die Überraschung gefallen?" konnte ich mir jedoch nicht verkneifen zu fragen, während ich in ein Paar Boxershorts schlüpfte. Gibbs schüttelte über meine Ungeduld seinen Kopf, zog sich sein weißes T-Shirt an, bevor er antwortete: „Sie wird dir garantiert gefallen und du wirst sie sicher eine Weile nicht vergessen." Ein unergründliches Lächeln bildete sich auf seinen Lippen und ließ mich meine Stirn runzeln. So geheimnisvoll kannte ich ihn gar nicht und irgendwie war es mir ein wenig unheimlich. Aber ich dachte nicht länger darüber nach, sondern zog mich in Rekordzeit an. Schließlich wollte ich endlich wissen, was es für eine Überraschung war, die er für mich parat hatte. Während der ganzen Zeit überlegte ich, was es wohl sein könnte, was sich sein Gehirn ausgedacht hatte, aber ich kam einfach auf kein Ergebnis. Genau 29 Minuten später sollte ich es jedoch erfahren und es war etwas, womit ich nie im Leben gerechnet hätte, schon gar nicht an dem Ort, an den er mich brachte.

Fortsetzung folgt...
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