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Washington D.C.
Montag, 27. Januar
06:45 Uhr


Es war nicht einmal sieben Uhr, als ich im Fahrstuhl stand, der mich in Sekundenschnelle in die dritte Etage des Hauptquartiers bringen würde. Mein Rucksack hing auf meiner Schulter, die Waffe war an meiner Hüfte befestigt und in meiner Hand befand sich ein Kaffeebecher, dessen Inhalt wunderbar warm war. Man hätte meinen können, ich würde mich auf den Weg machen, einen normalen Arbeitstag zu beginnen, aber nichts würde mehr normal sein – jedenfalls in den nächsten Wochen.
Es war seltsam, dass ich alleine in der kleinen Kabine stand und nicht Gibbs neben mir war, so wie es fast jeden Morgen in den letzten sieben Monaten der Fall gewesen waren. Selten hatten wir Nächte getrennt verbracht, nämlich nur, wenn wir das Gefühl gehabt hatten, wir würden uns gegenseitig einengen - das würde in Zukunft wohl nicht mehr passieren.
Ich seufzte leise und fuhr mir mit einer Hand über die Augen, versuchte die Müdigkeit zu unterdrücken, die mich erneut zu überkommen drohte. Wie ich es vorausgesagt hatte, hatte ich keine Sekunde geschlafen und die Minuten waren so zäh dahingeflossen wie geschmolzener Gummi. Ich hatte nicht einmal einen Fuß in das Schlafzimmer gesetzt, sondern hatte mich einfach auf die Couch vor dem Fernseher fallen lassen, hatte diesen eingeschaltet und mich berieseln lassen, während mein Blick eher auf das Fenster als auf den Bildschirm gerichtet gewesen war. Ducky hatte sich um diese Uhrzeit schon ins Gästezimmer zurückgezogen und ich hätte ihn schlecht zwingen können, ebenfalls aufzubleiben. Allerdings hatte er mir sofort klar gemacht, dass ich zu ihm kommen sollte, wenn ich etwas brauchte. Aber das Einzige, was ich brauchte, war nicht erreichbar und würde auch nie wieder erreichbar sein.
Es war eine Ironie des Schicksals, dass Gibbs bei einem Unfall gestorben sein sollte. Obwohl er einen schrecklichen Fahrstil hatte, so war der Wagen immer heil geblieben, außer er war von Kugeln durchsiebt worden, aber sonst hatte er nie einen Kratzer abbekommen. Mein Instinkt sagte mir, dass etwas faul war und es war diese Tatsache, die mich letzte Nacht beschäftigt und mich heute ins Büro getrieben hatte. Jethro baute nicht so ohne weiteres Unfälle, egal wie schlimm die Straßenverhältnisse waren. Da steckte definitiv etwas anderes dahinter und ich würde nicht eher Ruhe geben, bevor ich nicht herausgefunden hatte, was los war. Immerhin hatte er sich im Laufe seiner Karriere als NCIS Agent viele Feinde gemacht und es gab viele, die ihn tot sehen wollten. Oder hatte jemand das ganze Team im Visier – so nach dem Motto: einer nach dem anderen?
Ich hatte das Gefühl, beobachtet worden zu sein, nicht vergessen, aber leider hatte ich keine Spuren mehr im Garten gefunden, da es in der Nacht erneut heftig geschneit und sich eine neue, zehn Zentimeter dicke Schneedecke gebildet hatte. Außerdem war es auch am Morgen finster gewesen und eine Taschenlampe hatte ebenso wenig geholfen. Jetzt könnte ich mir selbst in den Hintern treten, dass ich nicht sofort nachgesehen hatte, stattdessen hatte ich mich vor den Fernseher gelümmelt, damit meine Gedanken nicht ständig bei Gibbs waren. Aber es war nun einmal nicht mehr zu ändern und das musste ich akzeptieren.

Ducky war nicht gerade begeistert gewesen, als ich ihm an Morgen gesagt hatte, ich würde ins Büro fahren. Ihm war sofort klar gewesen, dass ich nicht geschlafen hatte und er hatte mich zu überreden versucht, mich wenigstens für eine Stunde ins Bett zu legen. Aber stur wie ich nun einmal war, hatte ich seine Tirade über mich ergehen lassen, während ich eine Tasse starken Kaffees getrunken hatte, in der Hoffnung, dass dieser meine Erschöpfung ein wenig lindern würde, aber er hatte nicht geholfen. Obwohl ich mich nur allzu gerne in ein weiches Bett gelegt hätte, wusste ich doch, dass ich keinen Schlaf finden würde, zu viel ging mir durch den Kopf.
Ich hatte Ducky von meinem Verdacht, dass Gibbs' Unfall vielleicht kein Unfall gewesen war, nichts erzählt – einerseits aus dem Grund, dass sich meine Vermutung selbst für meine Ohren ein wenig lächerlich anhörte und andererseits hatte ich auf einen neuerlichen Vortrag des Pathologen gut verzichten können. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass er mir weismachen hätte wollen, dass ich einfach nicht akzeptieren konnte, dass ein Mann wie Jethro bei etwas so simplem wie einem Autounfall gestorben war. Nun, ich konnte und wollte es auch nicht akzeptieren, jedenfalls so lange nicht, bis ich mich selbst vom Gegenteil überzeugt hatte – deswegen war ich auch ins Hauptquartier gefahren und zudem wegen der Tatsache, dass mir die Decke von Gibbs' Haus auf den Kopf gefallen wäre, wäre ich noch länger dort geblieben. Ich musste einfach etwas unternehmen, musste mich von dem Schmerz ablenken, der weiterhin in meinem Inneren tobte und mein ständiger Begleiter war. Wenigstens hatte ich nicht mehr das ständige Bedürfnis in Tränen auszubrechen, wenn ich an Jethro dachte. Ich vermisste ihn schrecklich und ich wusste, es würde niemanden geben, mit dem ich jemals wieder so glücklich werden konnte, aber das Leben musste irgendwie weitergehen – eine Erkenntnis, zu der ich in der unendlich langen Nacht gekommen war.
Außerdem war ich Bundesagent und es gab Menschen, die mich brauchten, genauso wie ich sie brauchte. Ich würde mit Händen und Füßen darum kämpfen, dass mir die Leitung des Teams übertragen wurde, immerhin hatte mich Gibbs jahrelang dazu ausgebildet und ich wusste, dass ich es durchaus schaffen konnte, Teamleiter zu sein, auch wenn ich Angst hatte zu versagen. Aber ich würde nicht zulassen, dass wir einfach einen neuen Vorgesetzten vor die Nase gesetzt bekommen würden, den wir wahrscheinlich nicht akzeptieren würden. Ich war bereit, diese Verantwortung zu übernehmen, auch wenn ich lieber unter anderen Umständen mein eigenes Team erhalten hätte, aber das Schicksal nahm oft einen Weg, den man nicht voraussehen konnte.

Das leise Pling des Fahrstuhls riss mich aus meinen Gedanken und die Türen glitten fast lautlos auf, um mich in ein Großraumbüro zu entlassen, das für mich an diesem Morgen sowohl vertraut als auch fremd war. Draußen herrschte noch immer Dunkelheit, die jedoch in einer halben Stunde verschwunden sein würde. Das Büro wurde nur von Lampen erhellt und trotz der künstlichen Beleuchtung war es ein wenig dämmrig. Da es fast sieben Uhr war, waren bereits viele Agenten anwesend, saßen an ihren Schreibtischen, erledigten liegengebliebene Berichte oder telefonierten. Es ging hektisch zu, Frauen und Männer redeten miteinander, liefen umher und wünschten einander einen guten Morgen. Es hätte ein normaler Montagmorgen sein können, aber nichts war mehr normal. Die Arbeit ging weiter, aber es herrschte eine gedrückte Stimmung und als ich dem ersten Agent vor dem Aufzug begegnete, wusste ich sofort warum. Die Nachricht von Gibbs' tödlichem Unfall hatte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Der Blick des Mannes ruhte länger als notwendig auf mir und er machte seinen Mund auf, so als ob er etwas sagen wollte, entschied sich aber schließlich dagegen und machte den Eindruck, nicht die richtigen Worte zu finden. Ich kannte den Agent nicht persönlich, wusste nicht einmal seinen Namen, aber sein Gesicht kannte ich. Ein paar Mal hatte ich ihn schon herumlaufen sehen, hatte aber nie mit ihm geredet.
Unwillkürlich umfasste ich den Becher in meiner Hand so fest, dass ich ihn beinahe zerquetscht hätte. Ohne den anderen noch einmal anzusehen, ging ich weiter, ignorierte so gut es ging die teils ungläubigen und teils mitleidigen Blicke, die mir zugeworfen worden. Ich hörte Geflüster, aber auch das ließ mich kalt, sollten sie ruhig hinter meinem Rücken darüber reden, dass ich meinen Freund verloren hatte, meinen Boss, meinen Mentor. Gibbs war ein geachteter Agent gewesen und ich wusste, nicht nur für mich war es leicht, mit dem Verlust fertig zu werden, aber niemand hatte ihn so geliebt wie ich und es gerade das, worum sich die Gespräche drehten. Die Beziehung zwischen mir und Jethro war kein Geheimnis und sie hatte nicht allen gefallen, aber man konnte nicht leugnen, dass viele ein wenig erleichtert gewesen waren, dass mein Freund nicht mehr so oft schlecht gelaunt gewesen war und er öfters ein Lächeln auf seinen Lippen gehabt hatte.
Ich eilte an einem Trio aus weiblichen Agents vorbei, die mich geschockt musterten, ließ meinen Rucksack auf den Boden fallen, setzte mich auf meinen Stuhl und legte die Füße auf den Schreibtisch – eine Angewohnheit, die Gibbs gar nicht gemocht und die mir meistens eine Kopfnuss eingebracht hatte. Aber diesmal kam er nicht um die Ecke geschossen, um mich zu schlagen – ab heute war es wohl meine Aufgabe, Kopfnüsse zu verteilen, auch wenn ich nicht sonderlich Lust dazu verspürte.
Traurig blickte ich zu dem Schreibtisch schräg gegenüber und trank langsam meinen Kaffee, der Zweite innerhalb einer Stunde. Aber auch dieser half nicht, dass ich aus meiner Erschöpfung gerissen wurde, so als ob mein Körper plötzlich eine Resistenz gegen Koffein entwickelt hätte.
Es war schon seltsam, niemanden an dem Tisch sitzen zu sehen, kein Gibbs, der irgendwelche Berichte gegenlas oder etwas in die Tastatur tippte, nur um gleich darauf seine Stirn zu runzeln, weil er mit dem neumodischen Kram nicht zu Recht kam. Ich liebte diesen Gesichtsausdruck über alles – ein Mischung aus Verzweiflung und Wut, der seine blauen Augen in ein Funkenmeer aufgehen ließ. Aber er hatte nie die Kontrolle über sich verloren und auf den Bildschirm eingeschlagen, so wie es Ziva immer machte, wenn sie Probleme mit ihrem Computer hatte.
Ein kleines Lächeln bildete sich auf meinen Lippen, als ich Jethro unwillkürlich vor mir sah, seinen Kopf weit weg von der Akte, die er las und seine Augen zusammengekniffen. Ich hatte ihm einmal gesagt, er solle eine Brille tragen, aber er war einfach zu eitel gewesen, um sich einzugestehen, dass er eine brauchte. Ein einziges Mal hatte ich ihn deswegen aufgezogen und mich gewundert, warum er es so gelassen aufnahm, nicht einmal eine Kopfnuss hatte er mir verpasst. Allerdings hatte ich Stunden später den Grund erfahren - er hatte andere Methoden, um mir beizubringen, wann ich besser den Mund halten sollte. In dieser Nacht hatte ich insgesamt nur drei Stunden Schlaf bekommen und ich hatte in den nächsten Tagen Probleme mit dem Sitzen gehabt, was Ziva natürlich zu einem entsprechenden Kommentar veranlasst hatte, ob ich ein ungezogener Junge gewesen war. Zu meiner eigenen Verblüffung hatte ich sie in dem Glauben gelassen, Gibbs hätte mir den Hintern versohlt, anstatt ihr zu sagen, dass er insgesamt drei Mal mit mir geschlafen hatte und dabei die gesamte Zeit über der Dominante gewesen war. Obwohl ich nicht leugnen hatte können, dass mir seine etwas harte Art durchaus gefallen hatte, hatte ich seit jener Nacht kein einziges Mal mehr einen dummen Spruch über seine schwindende Sehkraft und der Verwendung einer Brille gemacht – ich hatte meine Lektion gelernt. Ich konnte froh sein, dass es das einzige Mal war, dass er mir auf diese Art Manieren beigebracht hatte, sonst hätte ich öfters als einmal nicht sehr bequem sitzen können.

„Tony?" Bei der Erwähnung meines Namens zuckte ich zusammen, mir fiel beinahe der Kaffeebecher in meinen Schoß und für einen kurzen Moment wusste ich nicht mehr, wo ich war, zu sehr war ich in die Erinnerungen vertieft gewesen, vor denen ich eigentlich geflohen war. Obwohl sie schmerzten und mir zeigten, was ich verloren hatte, waren sie dennoch schön und ein Teil von mir. Vielleicht würde ich es irgendwann einmal schaffen, an Gibbs zu denken, ohne das Bedürfnis zu haben, vor Trauer laut zu schreien.
Ich riss meinen Blick von seinem Schreibtisch los und drehte meinen Kopf, nur um Ziva vor mir stehen zu sehen, ihre Stirn in Falten gelegt und mich ungewohnt besorgt musternd. „Hey", begrüßte ich sie leise, trank meinen Kaffee aus und anstatt den Becher im Mülleimer zu entsorgen, stellte ich ihn auf meinen Tisch – immerhin gab es jetzt keinen mehr, der mich rügen würde, wenn ich ein wenig chaotisch war.
„Was machst du hier?" fragte meine Kollegin und nahm die wollene Mütze von ihrem Kopf und zerzauste damit ein wenig ihre Haare. „Ich arbeite hier, schon vergessen?" erwiderte ich in meiner üblichen Art, jedoch mit einem ernsten Ton in der Stimme. „Es ist Montag, was bedeutet, dass eine neue Woche angefangen hat und meines Wissens startet der Dienst um sieben Uhr. Die Verbrecher schlafen nicht und es muss schließlich jemanden geben, der sie fängt und ins Gefängnis steckt." Ich war unbeabsichtigt lauter geworden und ich wusste, dass es falsch war. Ziva verzog ihr Gesicht und schürzte ihre Lippen. „Entschuldige", murmelte ich gleich darauf, da sie ja nur sicher gehen wollte, dass es mir gut ging. „Ich bin heute einfach nicht ich selbst." Müde fuhr ich mir mit einer Hand über mein Gesicht und atmete tief durch. Die Nachwirkungen meines Bourbon-Exzesses waren zwar schon lange verschwunden, aber ich fühlte mich auf einmal, als ob ich erneut einen Kater hätte. Mein Kopf war schwer, brummte leicht und ich hatte das Gefühl, in meinem Körper wäre keine Kraft zurückgeblieben.
„Das kann ich verstehen", erwiderte sie, was ihre Art war mir zu sagen, dass sie meine Entschuldigung angenommen hatte. Sie ließ ihren Rucksack vor ihrem Platz auf den Boden fallen, zog ihren Mantel aus, warf ihn achtlos über ihren Stuhl und kam zu mir herüber. Sie schob meine Beine zur Seite und setzte sich auf den Schreibtisch. „Wir haben uns Sorgen um dich gemacht, als du so urplötzlich von hier verschwunden bist. Ich war nicht die Einzige, die gedacht hat, dass du dir vielleicht etwas antun könntest." Unwillkürlich zog ich meine Augenbrauen in die Höhe und musterte die Frau vor mir. Normalerweise zeigte sie nie offen, was sie dachte oder fühlte, aber diesmal konnte ich in ihrem Gesicht wie in einem Buch lesen.
„Mir etwas antun?" wiederholte ich leise ihre Worte. „Daran habe ich nicht eine Sekunde lang gedacht. Es wäre…" Ich unterbrach mich, räusperte mich kurz und setzte mich ein wenig aufrechter hin. „Das wäre nicht richtig gewesen. Aber ich habe mich mit Jethros Bourbon so betrunken, dass ich nicht einmal mehr gerade stehen konnte. Es hat aber nicht wirklich geholfen, den Schmerz zu betäuben." Etwas verlegen spielte ich mit meinen Fingern und wunderte mich selbst, dass ich mit Ziva über meine Gefühle redete. Nichts war mehr von unseren Streitigkeiten geblieben und ich hatte nicht einmal eine Ahnung gehabt, dass sie einen derart mitfühlenden Blick in petto hatte. Die knallharte Ex-Mossad Agentin war verschwunden und hatte einer Frau Platz gemacht, die ich auf einmal mit ganz anderen Augen sah. „Ich schätze, ich kann von Glück reden, dass Ducky nach mir gesehen hat, sonst wäre ich wohl nicht mehr aus dem Keller hinausgekommen." Ich riss meinen Blick von Ziva los und starrte erneut den leeren Schreibtisch schräg gegenüber an. Würde ich es je schaffen, dort als Teamleiter zu sitzen und dabei nicht an den Mann denken, der vor mir dort seinen Platz gehabt hatte?
„Wieso hast du dir nicht frei genommen?" wollte die Israelin wissen und lehnte sich zur Seite, sodass sie mir den Blick versperrte. Ich hatte eher darauf gewartet, dass sie mich deswegen aufziehen würde, dass ich mich betrunken hatte. Normalerweise hätte sie sofort darauf herumgeritten, aber keine Spur von blöden Sprüchen oder Scherzen. „Niemand verlangt von dir, heute schon hier zu sein."
„Ich weiß", erwiderte ich und zuckte mit den Schultern. „Aber mir ist einfach die Decke auf den Kopf gefallen. Die Stille hätte mich fertig gemacht, Ziva. Alles erinnert mich nur an Jethro, egal ob ich bei mir zu Hause bin oder bei ihm. Er fehlt mir so schrecklich und egal wo ich bin, ich denke nur an ihn. Es ist wie ein Teufelskreis, aus dem ich nicht hinaus kann." Den wirklichen Grund, warum ich hier war, sagte ich ihr nicht – jedenfalls noch nicht. Vorher musste ich mit Abby reden, ob sie gewillt war, mir zu helfen.
„Du bist nicht der Einzige, dem Gibbs fehlt", erwiderte meine Kollegin und tätschelte meinen Unterschenkel. „Und ich kann verstehen, wie schwer das für dich ist, aber hier erinnert dich doch auch nur alles an ihn. Außerdem siehst du aus, als ob du nicht sehr viel geschlafen hättest. Hast du überhaupt geschlafen?" Ich schüttelte den Kopf. „Nein, habe ich nicht", unterstrich ich die Geste mit Worten. „Ich habe kein Auge zubekommen." „Du siehst schrecklich aus." „Na, vielen Dank. Das ist genau das, was ich jetzt hören will", erwiderte ich trocken und nahm meine Füße vom Tisch. Ich hatte nicht einmal gemerkt, dass sich das Großraumbüro immer mehr gefüllt hatte und es noch hektischer zuging. Draußen wurde es ein wenig heller, der Himmel verwandelte sich in ein Grau. Der Alltag ging weiter, ungeachtet dessen, dass einer der besten Agenten des NCIS gestorben war. Es war nun einmal nicht zu ändern und die verschiedenen Ermittlungen konnten deswegen nicht eingestellt werden.
Ich stand auf und streckte mich, sodass meine Gelenk knackten, gähnte ausgiebig und umrundete meinen Schreibtisch. „Wo willst du hin?" fragte Ziva und sah mich mit gerunzelter Stirn an. „Zu Abby", erwiderte ich, blieb aber noch einmal stehen. „Wenn ich zurück bin, will ich mit dir und McGee reden, es ist wahrscheinlich wichtig." „Wahrscheinlich?" „So genau kann ich es noch nicht sagen. Es ist nur so ein Gefühl." Ich drehte mich um und stieß beinahe mit Tim zusammen, der mich überrascht musterte. „Tony, was machst du denn hier?" fragte er verblüfft und klang dabei nicht wie Bambino, seine Schüchternheit schien verflogen. Sein Gesicht hatte nicht die gesunde Farbe wie sonst und seine Kleidung war ein wenig zerknittert.
„Ich arbeite hier und ja ich weiß, dass ich heute nicht hier sein müsste und ja ich weiß, dass ich schrecklich aussehe. Und bevor du fragst, ich gehe zu Abby." Mit diesen Worten ließ ich ihn stehen, umrundete ihn, schalt ihn nicht einmal dafür, dass er sich genau in meinen Weg gestellt hatte und wir somit beinahe zusammengeprallt wären und eilte auf den Fahrstuhl zu. Es wurde Zeit, dass ich endlich meinem Instinkt nachging, der mich bisher noch nie im Stich gelassen hatte.

Keine Musik - das war das Erste, was mir auffiel, als ich aus dem Aufzug trat. Normalerweise hörte man bereits auf dem Gang den Krach, den Abby als Song bezeichnete und von dem man größtenteils nicht einmal den Text verstand. In diesem Moment jedoch wünschte ich mir, ich würde auch nur einen Ton hören, anstatt diese Stille, die so ungewöhnlich war. Dass keine Musik lief, war kein gutes Zeichen und zeugte davon, dass sie am Boden zerstört war. Gibbs war für sie wie ein Vater gewesen, die beiden hatte etwas Tiefes verbunden und im Gegensatz zu seinen Agenten hatte er der jungen Frau nie böse sein können, egal was sie gesagt oder getan hatte. Ihre fröhliche Art hatte jeden sofort für sich eingenommen und noch die dunkelste Wolke am Horizont vertrieben.
Die gesamte Situation erinnerte mich an Kates Tod, auch damals war es hier unten ruhig und draußen stockdunkel gewesen – nur der Regen fehlte heute. Innerhalb von nicht einmal eineinhalb Jahren zwei Menschen zu verlieren, denen man nahe gestanden hatte, war hart und ich hatte keine Ahnung, wie ich das, und vor allem wie es Abby verkraften sollte. Ich hatte Kate zwar nicht so wie Gibbs geliebt, aber sie war für mich wie eine Schwester gewesen. Die Streitereien zwischen uns hatten gezeigt, dass wir durch ein festes Band verbunden gewesen waren, von dem ich gedacht hätte, es würde ewig bestehen. Aber dann wurde sie von einer Sekunde auf die andere aus dem Leben gerissen, durch eine einzelne Kugel in ihr Gehirn. Noch heute spürte ich ab und zu ihr warmes Blut auf meinem Gesicht, die roten Spritzer, die mir mit aller Deutlichkeit klar gemacht hatten, was ich auf dem Dach verloren hatte.
Kate… ich hatte mich oft gefragt, wie sie wohl reagiert hätte, wenn sie erfahren hätte, dass Jethro und ich ein Paar waren. Wahrscheinlich hätte sie es zu allererst für einen Scherz gehalten, mich ungläubig angesehen, sich aber schlussendlich für uns gefreut. Und so wie ich ihr Wesen einschätzte, hätte sie mir sicher gesagt, wenn Gibbs mir je wehtun sollte, dann würde sie ihm höchstpersönlich den Hals umdrehen. Mit seinem Tod tat er mir unglaublich weh, aber von der jungen Frau konnte er wohl nicht mehr bestraft werden.
Ich schüttelte meinen Kopf – jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um an Kate zu denken, wurde dadurch meine Trauer nur noch stärker. Mit großen Schritten betrat ich das Labor, wo eine ungewohnte Dämmrigkeit herrschte. Abbys Computer war ausgeschaltet, ihre Babys, wie sie ihre Maschinen immer nannte, gaben keinen Ton von sich und auch sonst rührte sich nichts. Durch die Fenster fiel ein wenig Licht, aber es half auch nicht wirklich, den großen Raum zu erhellen. Ich blieb stehen und sah mich um, von der jungen Goth war zwar keine Spur zu sehen, aber ich spürte ihre Anwesenheit. Ich wusste, dass sie hier irgendwo war.
„Abby?!" rief ich, blickte unter jeden Tisch und in jede Ecke, bevor ich auf die automatische Glastür zu ging, die sich leise zischend öffnete und mich in den hinteren Teil des Labors einließ – ich entdeckte sie sofort. Auch hier war kein Geräusch zu hören, kein Licht brannte, aber dennoch konnte ich ihre Silhouette ausmachen. Sie kauerte auf dem Boden, den Rücken an die Mauer gelehnt, ihre Arme um ihre Knie geschlungen und dazwischen Bert, ihr Stoffnilpferd. Aus ihren Rattenschwänzen hatten sich Haarsträhnen gelöst, die ihr wirr ins Gesicht hingen und ihre Wangen noch blasser erscheinen ließen. Sie trug kein Make-up und ihre Augen waren rot und leicht geschwollen. Wie sie so in der Ecke saß, sah sie schrecklich einsam, zerbrechlich und wie ein kleines, hilfloses Mädchen aus. Nirgendwo war eine Spur ihrer sonstigen Fröhlichkeit, mit der sie jeden ansteckte. Für einen kurzen Moment war meine eigene Trauer vergessen und ich wollte nur noch Abby trösten, wollte sie in den Arm nehmen und ihr sagen, dass alles gut werden würde – obwohl ich nicht einmal selbst daran glaubte.
Die Forensikerin hatte bei meinem Eintreten sofort den Kopf gehoben und blickte mich aus ihren großen grünen Augen, die glasig wirkten, an. Als Kate gestorben war, war sie an ihrem Schreibtisch gesessen und hatte aus einem mir unerfindlichen Grund gelacht, während sie sich ihre Zöpfe neu gebunden hatte. Aber heute war keine Spur von einem Lachen zu sehen, nicht einmal ihre Mundwinkel hatte sie nach oben gezogen. Nach mir musste sie der Verlust ihres silberhaarigen Fuchses am meisten getroffen haben.
„Hey, Tony", sagte sie mit schwacher Stimme und stand auf, wobei sie Bert fester umfasste und ihm dadurch ein Pupsgeräusch entlockte. Normalerweise fand ich das mehr als witzig, aber heute nahm ich es fast nicht wahr. „Wie geht es dir?" wollte sie wissen und schloss mich in ihre Arme, wobei sie das Stofftier an meinen Rücken presste. Ich schloss meine Augen, erwiderte die Umarmung und sog ihren Duft in meine Lungen, so als ob er überlebenswichtig wäre. „Es ging mir schon einmal besser", antwortete ich schließlich und strich Abby durch ihre Haare, wodurch sich noch mehr Strähnen aus ihren Zöpfen lösten. „Aber ich komme irgendwie zu Recht. Ducky hat heute Nacht auf mich aufgepasst." Sie legte ihren Kopf an meine Schultern und ich spürte, wie mein Hemd an dieser Stelle feucht wurde. „Es ist gut, dass du nicht alleine warst", flüsterte sie und drückte mich fester an sich. Gleich darauf wurde ihr zierlicher Körper von einem heftigen Schluchzer geschüttelt. „Das ist nicht fair. Wieso Gibbs? Wieso ausgerechnet Gibbs? Ich… ich kann nicht glauben, dass er nie wieder durch diese Tür kommen wird, um mir einen CafPow zu bringen oder mich anzutreiben, ihm endlich die gewünschten Ergebnisse zu geben. Wer wird mich denn in Zukunft herumscheuchen?" Ihre Finger krallten sich in mein Hemd und ich streichelte ihr weiter beruhigend über die Haare.
„Ich kann das übernehmen, wenn du willst", erwiderte ich leise und mit vollem Ernst. „Ich bin mir sicher, ich bin gut im Leute herumscheuchen." Abbys Schluchzen ging in ein kurzes Lachen über, das für mich das schönste Geschenk war. Langsam löste sie sich aus meiner Umarmung und betrachtete mich mit schief gelegtem Kopf. „Du wirst nicht zulassen, dass wir einen Unbekannten als neuen Boss bekommen, oder?" „Nein, werde ich nicht. Ich werde alles unternehmen, dass mir die Leitung des Teams übertragen wird, Abbs. Und dann kannst du mich Bossman nennen, wenn du möchtest." Sie schniefte kurz und wischte sich mit den Händen über ihre Wangen, während mir meinerseits die Tränen kamen, die ich seit gestern Abend zurückgehalten hatte.
„Es tut mir leid, dass ich damit angefangen habe", entschuldigte sie sich, stellte Bert auf einem Tisch ab, zauberte aus dem Nichts ein Taschentuch hervor und putzte sich die Nase. „Dabei kann ich mir vorstellen, dass dir gerade andere Sachen durch den Kopf gehen als die Leitung des Teams." „Ist schon in Ordnung", erwiderte ich und blinzelte heftig, aber sie hatte längst gemerkt, dass meine Augen verräterisch feucht waren. Ich atmete tief durch und steckte meine Hände in die Hosentaschen, um zu verbergen, dass sie zu zittern anfingen. „Ich habe mich noch nie so alleine gefühlt", platzte es gegen meinen Willen aus mir heraus und ich lehnte mich gegen einen Tisch, um ein wenig Halt zu finden. „Du bist aber nicht alleine, Tony", sagte Abby mitfühlend und legte mir eine Hand auf meinen rechten Unterarm. „Ich weiß, aber dennoch ist um mich herum eine große Einsamkeit. Jethro war mein Leben. Und ich habe keine Ahnung, wie ich es ohne ihn schaffen soll. Ich kann nicht einmal schlafen oder irgendetwas essen. Es ist so, als ob alles seine Bedeutung verloren hätte." Ich blinzelte erneut heftig, fuhr mir über meine Augen, bevor ich ein kleines Lächeln aufsetzte. Abby stellte sich ein wenig auf ihre Zehenspitzen und gab mir einen kleinen Kuss auf meine linke Wange. „Wir werden das sicher schaffen. Du bist nicht alleine, vergiss das nie." Ihre Zuversicht war unglaublich und ich konnte nicht anders, als zu nicken. Wie schaffte sie es bloß, jemanden aufzuheitern, obwohl es ihr selbst nicht gut ging?
„Willst du einen Schokoriegel?" fragte sie unverhofft, nahm meine Hand und zerrte mich in den anderen Raum hinüber, noch bevor ich ihr antworten konnte. Sie öffnete den Kühlschrank mit der Glastür und holte einen großen Riegel hervor, den sie mir in die Finger drückte. „Aber ich…" begann ich, wurde aber unterbrochen. „Du musst etwas essen, Tony", sagte sie ernst und hob dabei einen Zeigefinger. „Auch wenn du keinen Hunger verspürst, dein Körper braucht Nahrung und Zucker ist immer gut. Und jetzt iss." Zweifelnd betrachtete ich die Süßigkeit und obwohl sich in mir alles sträubte, auch nur einen Bissen zu mir zu nehmen, öffnete ich zögernd das Papier, holte tief Luft, steckte mir den Riegel in den Mund und biss ein großes Stück ab. Herrlicher Schokoladengeschmack überflutete meine Sinne und mein Magen reagierte darauf mit einem lauten Knurren. War mir vorher übel geworden, wenn ich auch nur daran gedacht hatte, etwas zu essen, wurde mir jetzt auf einmal bewusst, dass mir übel gewesen war, weil ich so lange nichts mehr zu mir genommen hatte. Ich konnte nur mit Mühe ein genießerisches Seufzen unterdrücken und kaufte eifrig weiter. Abby hob wissend ihre Augenbrauen und auf ihren Lippen erschien ein kleines Lächeln, das die Welt gleich um einiges freundlicher erschienen ließ.
„Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?" fragte sie, ging zu ihrem Computer und schaltete ihn ein. „Keine Ahnung", erwiderte ich mit vollem Mund und folgte ihr. „Samstagabend, glaube ich." Ich lehnte mich gegen ihren Schreibtisch und sah dabei zu, wie der Bildschirm zum Leben erwachte und das Labor erhellte. Innerhalb weniger Sekunden hatte ich den Riegel verschlungen und ignorierte das protestierende Knurren meines Magens, der nach mehr Nahrung verlangte. Ich schmiss den Verpackung gekonnt in einen Mülleimer und wandte mich erneut Abby zu – es wurde Zeit, dass ich zu dem Thema kam, warum ich überhaupt heruntergekommen war.
„Ich brauche deine Hilfe", begann ich und hatte sofort ihre Aufmerksamkeit auf mich gezogen. „Worum geht es?" „Kannst du für mich ein Auto untersuchen? Es ist…" Ich räusperte mich und zupfte ein wenig an meiner Hose herum. „Ich möchte, dass du dir die Überreste von Gibbs' Wagen kommen lässt und ihn auf verdächtige Spuren untersuchst." Abby starrte mich mit großen Augen an und für ein paar Sekunden breitete sich Schweigen aus. Schließlich dämmerte es ihr, was ich mit dieser Aktion bezweckte. „Du glaubst, dass es kein Unfall war, oder?" Ihre Stimme klang ungläubig und sie umklammerte meinen Unterarm. „Ich glaube keine Sekunde daran", antwortete ich ihr und seufzte. „Jethro hat zwar…" Ich unterbrach mich und korrigierte mich ganz schnell. „Jethro hatte zwar einen schrecklichen Fahrstil, aber hast du in all den Jahren je erlebt, dass er einen Unfall gebaut hat? Selbst bei schlechten Straßenverhältnissen? Er beherrschte das Autofahren so gut wie du die Forensik." „Du meinst, er wurde ermordet?" Das letzte Wort kam schwer über ihre Lippen und es versetzte mir einen Stich. „Ja, genau das denke ich. Ich habe keine Ahnung, wie weit die in Norfolk den Wagen schon untersucht haben und zu welchem Ergebnis sie gekommen sind, aber ich will, dass du ihn dir Millimeter für Millimeter vornimmst. Irgendetwas ist faul an der ganzen Sache und ich will herausfinden, was."
„Wow", entfuhr es ihr und sie sah mich beinahe ehrfürchtig an. „Das Herumscheuchen hast du bereits drauf, Tony", fügte sie hinzu und verpasste mir einen leichten Faustschlag auf meinen Oberarm. „Jetzt fehlt nur noch ein CafPow für mich und dass du mich niederstarrst. Vielleicht solltest du dir Haare grau färben und blaue Kontaktlinsen zulegen und es wäre perfekt." Ich konnte nicht anders als zu lachen - es war ein ehrliches Lachen, keine Spur erzwungen und ich fühlte mich auf unerklärlicherweise ein wenig besser.
„Heißt das, du hilfst mir?" fragte ich sicherheitshalber nach. „Natürlich helfe ich dir. Wenn jemand meinen Bossman wirklich ermordet hat, dann will ich das wissen und dann hoffe ich, dass du keine Gnade walten lässt. Ich verspreche dir, sollte an seinem Wagen auch nur die kleinste Kleinigkeit nicht stimmen, dann werde ich das finden. Ich werde mir das Auto sofort herkommen lassen." „Danke, Abbs", sagte ich und drückte ihr meinerseits einen Kuss auf ihre Wange. „Nein, ich danke dir, Tony. Jetzt habe ich wenigstens eine Beschäftigung und kann mich ablenken. Ich werde dir sofort Bescheid geben, wenn ich etwas gefunden habe." Ich nickte, stieß mich vom Schreibtisch ab und eilte mit großen Schritten aus dem Labor. Es wurde Zeit, dass ich McGee und Ziva einweihte und dann musste ich mir sorgfältig Worte zu Recht legen, mit denen ich Direktor Sheppard überzeugen konnte, dass es richtig war, dass ich eine Untersuchung in die Wege geleitet hatte. Es würde sicher nicht lange dauern, bis sie es erfuhr und wenn es so weit war, wollte ich vorbereitet sein. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass sie nicht erfreut sein würde, zumal ich persönlich involviert war, genauso wie der Rest des Teams. Aber mir war es egal, ob sie mir Stolpersteine in den Weg legte, ich würde die Wahrheit herausfinden und wenn es sein musste, würde ich mich dafür mit der Direktorin anlegen.

Fortsetzung folgt...
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