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Ich hätte schwören können, dass ich noch nie so lange gebraucht hatte, um das Büro der Direktorin zu erreichen. Mit jeder Stufe die ich vom Großraumbüro nach oben genommen hatte, war ich unwillkürlich langsamer geworden und wäre beinahe rückwärts gegangen, hätte ich mein Tempo noch weiter reduziert. Cynthia hatte mir am Telefon klar gemacht, dass Jen mich sofort sehen wollte und hatte dabei das Wort sofort nachdrücklich betont, dennoch hatte ich gezögert, eine Etage höher zu gehen. Ich hatte keine Ahnung, was passieren würde, wenn sie mich damit konfrontierte, warum ich Gibbs' Wagen nach Washington holen ließ. Die Beziehung zwischen uns beiden war ihr immer wieder ein Dorn im Auge, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie es irgendwann akzeptiert hatte. Dennoch war sie jetzt meine direkte Vorgesetzte und sie konnte mich problemlos vor die Tür setzen, wenn ich mich nicht ihren Befehlen beugte, aber egal ob sie mich feuerte oder nicht, ich würde herausfinden, was Jethro wirklich zugestoßen war, auch wenn ich das ohne Marke und Waffe machen musste.
Mit etwas mehr Mut nahm ich die restlichen drei Stufen mit einem großen Schritt, eilte den Gang entlang und riss förmlich die Tür zu Cynthias Büro auf. Diese hob ihren Kopf und ehe sie etwas sagen konnte, stürmte ich an ihr vorbei, klopfte kurz an Jens Tür, wartete aber nicht auf eine Antwort sondern öffnete sie in bester Gibbsmanier schwungvoll. Ich konnte es nicht leugnen, aber er hatte auf mich abgefärbt und ich schien einige Verhaltensweisen von ihm übernommen zu haben, wie zum Beispiel mein plötzliches Verlangen nach Kaffee – dabei hatte ich heute bereits zwei Tassen gehabt. Vielleicht hätte ich mir vorher welchen besorgen sollen, damit ich etwas in den Händen halten konnte, an dem ich mich festklammern konnte, wenn mir die Unterhaltung mit der Direktorin zu bunt wurde.
Diese saß an ihrem Schreibtisch und runzelte ungehalten die Stirn, als ich einfach so in ihr Büro platzte, obwohl sie wusste, dass ich kommen würde. Während ich die Tür hinter mir schloss – weniger schwungvoll als ich sie geöffnet hatte – klappte sie die Akte vor ihr zu, nahm ihre Lesebrille ab und legte beides sorgfältig auf die Seite, damit ihr die Sachen nicht im Weg waren. Sie faltete ihre Hände ineinander und bedeutete mit einer Bewegung ihres Kopfes, dass ich mich setzen sollte. Etwas zögerlich kam ich ihrer Aufforderung nach, da ich damit mit ihr auf gleicher Augenhöhe war, obwohl es vielleicht besser gewesen wäre, sie zu überragen. Um sie jedoch nicht zu verärgern, zog ich den Besucherstuhl unter dem Tisch hervor und ließ mich darauf fallen, erweckte den Eindruck, dass es für mich nichts Neues war, dass sie mich in ihr Büro beorderte.
Jen musterte mich intensiv, bevor sie sich zurücklehnte und die Spannung zwischen uns ein wenig verebbte – jedenfalls hatte ich nicht mehr das Gefühl, dass die Luft zwischen uns knistern würde. „Wie geht es Ihnen, Agent DiNozzo?" fragte sie freundlich und ich wusste sofort, dass sie nur Smalltalk machen wollte, ehe sie auf den wirklichen Grund meines Besuches zu sprechen kam. „Ich komme zurecht", antwortete ich und lehnte mich ebenfalls zurück, versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass ich mich ein wenig unwohl fühlte. Genauso wie Gibbs hatte sie das Talent, einen niederstarren zu können, so lange, bis man sich unter ihrem Blick wie eine Schlange wand.
Sie nickte, setzte eine verständnisvolle Miene auf, bevor sie ihre miteinander verschränkten Hände auf den Tisch legte und mich erneut fixierte. „Sie haben also nicht das Gefühl, durch den Wind zu sein oder durch den Verlust Dinge zu tun, die Sie in einer normalen Situation unterlassen würden?" Hier waren wir also, bei dem Punkt, warum ich wirklich in diesem Stuhl saß und mich ein wenig wie bei einem Verhör vorkam, obwohl ich mich nicht einmal zwei Minuten in diesem Raum befand. „Ich bin bei klarem Verstand, wenn es das ist, das Ihnen Sorgen macht, Madam Direktor", erwiderte ich ruhig, ungeachtet dessen, dass ich meine Hände zu Fäusten geballt hatte. Hatte sie etwa vor, mich für unzurechnungsfähig zu erklären? „Wir beide wissen, was es für mich bedeutet, Jethro verloren zu haben, unsere Beziehung war kein Geheimnis, genauso wenig wie es kein Geheimnis ist, dass ich ihn geliebt habe und Sie wissen genauso gut wie ich, dass es mehr als schmerzt, dass er bei einem simplen Autounfall ums Leben gekommen ist." Ich ließ es mir nicht entgehen, das eine Wort zu betonen und sie damit wissen zu lassen, dass ich genau wusste, warum ich hier saß, während sie um den heißen Brei herumredete und versuchte herauszufinden, wie es um meinen Geisteszustand bestellt war.

Jen kniff ihre Augen zusammen, aber mir entging nicht das kurze Zucken ihrer Mundwinkel, das mir verriet, dass sie seltsamerweise damit zufrieden war, dass ich sagte, was mir durch den Kopf ging. „Dann können Sie mir auch sicher erklären, warum ich vor nicht allzu langer Zeit einen Anruf aus Norfolk erhalten habe, bei dem es darum gegangen ist, dass Miss Sciuto sich Gibbs' Wagen nach Washington bringen lassen will. Zugegeben, die Kollegen waren mehr als erstaunt."
Ich fuhr mir mit einer Hand durch meine Haare und fischte ein paar Argumente aus den Untiefen meines anscheinend doch erschöpflichen Vorrats an Worten. „Bei allem Respekt, Madam Direktor, aber ich glaube nicht, dass Jethros Unfall ein Unfall gewesen ist. Die Straßen mögen vereist gewesen sein, aber bisher hat er deshalb noch nie die Kontrolle über sein Auto verloren. Die gesamte Sache stinkt bis zum Himmel, alleine dadurch, dass Gibbs nach Norfolk gefahren ist, ohne mir Bescheid zu sagen. Irgendetwas hat ihn davon abgehalten, sich mir anzuvertrauen und sei es nur, um mich zu beschützen." Ich spürte deutlich die Spannung, die erneut zwischen uns entstand und in Jens Augen trat ein Ausdruck, den ich nicht deuten konnte, der mir aber überhaupt nicht gefiel. Auf einmal hatte ich das Gefühl, dass sie mehr wusste als ich, dass sie darüber informiert war, warum mein Freund nach Norfolk gefahren war.
Gleich darauf änderte sich die Atmosphäre und die Direktorin entfaltete ihre Hände, lehnte sich ein wenig zurück. Die Wintersonne schien hell durch das breite Fenster, ließ ihre Haare leicht schimmern und verlieh ihr ein nicht ganz so strenges Aussehen wie noch vor Minuten. „Sie glauben also, es war Mord?" wollte sie wissen und dehnte das letzte Wort ein wenig aus. Bevor ich jedoch etwas sagen konnte, fuhr sie fort. „Wenn es so wäre und an Gibbs' Auto wurde etwas manipuliert, dann werden die Techniker in Norfolk das finden." „Das bezweifle ich keineswegs", erwiderte ich und beugte mich erneut vor, verringerte damit die Distanz zwischen uns. „Aber dennoch bin ich mir sicher, dass Abby bessere Arbeit leisten und sie jeden Millimeter des Wagens untersuchen wird. Sie ist ein Profi und würde noch die kleinste Ungereimtheit finden."
Jen schüttelte ihren Kopf und holte tief Luft, so als ob sie langsam die Geduld verlieren würde. „Ich kann Ihnen unmöglich den Fall übergeben, das wissen Sie. Sie sind persönlich involviert, wir alle sind das. Ziva, Agent McGee, Miss Sciuto und vor allem Sie würden nicht objektiv an die Sache herangehen und sich von persönlichen Gefühlen leiten lassen. Und das kann ich nicht verantworten. Sie suchen nur einen Weg, um mit dem Schmerz fertig zu werden und wollen unbedingt einen Schuldigen suchen. Aber selbst Gibbs kann einmal einen Unfall bauen, egal wie gut er mit einem Wagen umgehen kann."
„Das ist keine Verlustbewältigung", erwiderte ich schärfer als es angemessen wäre und ich beugte mich noch weiter vor, fixierte sie mit einem stahlharten Blick, von dem ich nicht einmal gewusst hatte, dass ich ihn überhaupt in petto hatte. „Mein Instinkt sagt mir, dass an dieser Sache etwas faul ist und egal ob Sie mir Steine in den Weg werfen, ich werde eine Möglichkeit finden, Licht in diese Angelegenheit zu bringen. Ich konnte meinem Bauchgefühl immer vertrauen und ich weiß, dass es mich auch diesmal nicht im Stich lässt. Jethro ist nicht bei einem Unfall ums Leben gekommen und ich werde das beweisen." Ich betonte jedes einzelne Wort, ließ sie damit wissen, dass ich weiterforschen würde, unabhängig davon, wie sie sich entscheiden sollte.
Wir sahen uns für einige Sekunden fest in die Augen, keiner war bereit nachzugeben, keiner wollte Schwäche zeigen. Die Stille dehnte sich aus und ich rechnete bereits mit einem Donnerwetter und einem Vortrag, dass ich meine Kompetenzen überschritten hatte, aber stattdessen schüttelte sie erneut ihren Kopf und diesmal zuckten ihre Mundwinkel deutlicher als zuvor. „Kein Wunder, dass Jethro immer gemeint hat, Sie seien sein bester Agent", sagte sie schließlich, die eisige Atmosphäre verschwand und das Büro erschien mir so freundlich wie eh und je. „Und Sie haben genauso einen Sturkopf wie er", fügte sie hinzu und ich konnte nicht anders, als meine Lippen zu einem kleinen Lächeln zu verziehen. „Das fasse ich einmal als Kompliment auf", erwiderte ich und ließ mich gegen die Lehne des Stuhles fallen. „Heißt das jetzt, Abby darf den Wagen untersuchen?" fragte ich vorsichtig, da wir noch immer nicht auf einen Punkt gekommen waren.
Jen seufzte leise und nickte. „Ja, das heißt es." Die Worte kamen sichtlich schwer über ihre Lippen und der Ausdruck von vorhin kehrte in ihre Augen zurück. Beinahe hatte ich das Gefühl, sie würde sofort ihre Worte bereuen, aber sie nahm sie nicht zurück. Erleichterung durchflutete mich, als mir bewusst wurde, dass ich die Chance erhielt, die Wahrheit herauszufinden und ich entspannte mich.
„Damit wir uns richtig verstehen", fuhr sie fort und wirkte auf mich plötzlich wie eine strenge Lehrerin, die ihrem Schüler klar machte, dass sie keinen weiteren Fehler duldete, „wenn ich auch nur einmal den Eindruck habe, dass Sie sich mit dieser Sache übernehmen oder sich zu sehr von Ihren Gefühlen leiten lassen, werde ich Sie schneller von dem Fall abziehen, als Sie blinzeln können."
Ich zweifelte keine Sekunde an ihren Worten und ich wusste, sie würde mich wahrscheinlich eigenhändig dazu zwingen, Urlaub zu nehmen, um von allem ein wenig Abstand zu gewinnen, aber so weit würde es nicht kommen, das schwor ich mir innerlich. „Verstanden", entgegnete ich schließlich und sie nickte zufrieden. „Na schön. Dann werde ich Norfolk anrufen und ihnen sagen, sie sollen den Wagen bringen." „Danke", erwiderte ich und meinte es wirklich so. Sie gab mir immerhin die Möglichkeit, meinen Frieden zu finden, auch wenn es ihr sichtlich schwer gefallen war, mich nicht einfach aus ihrem Büro hinauszuwerfen.
Ich stand auf und ging zur Tür, aber bevor ich sie öffnete, drehte ich mich noch einmal um. „Direktor Sheppard?" Ihre Hand, die nach dem Telefonhörer hatte greifen wollen, hielt mitten in der Bewegung inne und sie sah mich fragend an. „Ja?" „Nur so aus reiner Neugierde, aber haben Sie sich bereits überlegt, wer die Leitung des Teams übernehmen soll?" Sie wusste genau, worauf ich hinauswollte, was sie mit einer erhobenen Augenbraue quittierte. „Nein, ich habe es mir noch nicht überlegt", antwortete sie und ich hatte keine Ahnung, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war. „Aber bis es so weit ist, ist es Ihr Team, Agent DiNozzo." Mein Gesicht hellte sich auf und seit langem hatte ich wieder das Bedürfnis, breit zu grinsen. „Wirklich?" fragte ich nach, nicht sicher, ob ich sie richtig verstanden hatte. „Wirklich. Und jetzt verschwinden Sie, bevor ich meine Entscheidung rückgängig mache." Sie griff endgültig nach dem Telefonhörer und signalisierte mir damit, dass sie ungestört sein wollte.
Mit schneller schlagendem Herzen öffnete ich die Tür und schloss sie gleich darauf wieder, kaum dass ich den Vorraum betreten hatte. Cynthia hielt in ihrer Arbeit inne und musterte mich, als ich an ihr vorbeieilte und das Büro komplett verließ. Wenn Gibbs die Konversation von Jen und mir miterlebt hätte, wäre er sicher stolz auf mich gewesen, vor allem deshalb, weil ich mich nicht von ihr hatte einschüchtern lassen. Vielleicht war sie doch nicht so schlecht wie ich angenommen hatte und ich wusste, dass ich von ihr etwas lernen konnte, immerhin war sie nicht umsonst Direktorin des NCIS. Ich würde ihr beweisen, dass ich fähig war, ein Team zu leiten, damit sie keinen Grund sah, uns jemand anderen vor die Nase zu setzen.

Fortsetzung folgt...
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