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Gibbs saß in der kleinen Küche seines vorübergehend neuen Zuhauses, eine Tasse Kaffee vor sich auf dem leicht zerkratzten Holztisch stehend und starrte gedankenverloren aus dem Fenster, beobachtete die vereinzelten Wolken, die über den sonst makellosen blauen Himmel zogen. Für seinen Geschmack hatte er viel zu wenig Platz, fühlte sich ein wenig eingeengt, vor allem jetzt, wo er nichts zu tun hatte, außer aus dem Fenster zu starren und zu warten, bis es Nachmittag wurde, um sich erneut mit Darien zu treffen. Nicht einmal einen Keller hatte er, wo er ein Boot bauen konnte – nichts, nur den Fernseher in dem kleinen Wohnzimmer mit den leicht abgenützten Möbeln und dem durchgesessenen Sofa. Jethro wollte gar nicht wissen, wer vor ihm hier gewohnt hatte, welche Gestalten dieses Apartment als Eigentum bezeichnet hatten. Obwohl er gerade erst etwas über 24 hier wohnte, wünschte er sich nichts sehnlicher als sein eigenes Haus zurück, mit seinem Bootskeller und den ganzen Werkzeugen – nicht zu vergessen Tony, den er mehr als alles andere vermisste.
Es war ein Fehler gewesen, gestern zu ihm zu fahren, hatte er deswegen doch eine schlaflose Nacht hinter sich, wo er ständig die von Trauer erfüllten Augen seines Freundes vor sich gehabt hatte. Je mehr Zeit vergangen war, desto schwerer war es ihm gefallen, die ganze Sache nicht einfach aufzuklären, Anthony zu sagen, dass er noch am Leben war, ungeachtet dessen, dass dadurch der Einsatz eventuell den Bach hinuntergehen würde. Er konnte nur hoffen, dass er so schnell wie möglich herausfinden würde, was Darien plante, damit er wieder in sein altes Leben zurückkehren konnte.
Gibbs seufzte leise und holte tief Luft, in dem Bestreben, irgendwo ein wenig die Essenz von Tony aufzunehmen, aber in dieser Küche gab es keine Spur von Kokos, sondern nur den Geruch von frisch gemachtem Kaffee und altem Essen, der sich in der Tapete und den Einbauschränken festgesetzt hatte. Was würde er nur dafür geben, jetzt kurz an den Haaren seines Freundes schnuppern oder an seiner Haut knabbern und dabei die straffen Muskeln unter seinen Fingern spüren zu können. Es war beinahe ein körperlicher Schmerz, nicht in Anthonys Nähe sein zu können, zu wissen, dass er verantwortlich dafür war, dass dieser litt. Gibbs schwor sich, wenn der Auftrag beendet war, würde er alles wieder gutmachen, egal was er dafür machen musste – und wenn er auf die Knie sinken musste, damit ihm Tony verzieh, dann würde er das auch tun. Er hoffte inständig, dass ihre Liebe stark genug war, um das alles zu überstehen und wieder in den Alltag zurückzufinden.

Jethro riss seinen Blick vom Himmel los, nahm die leicht angeschlagene Tasse und trank einen großen Schluck Kaffee, während er sich in der Küche umsah. Es war gerade einmal genug Platz für einen Herd, eine Spüle und ein paar kleine Schränken aus einem Material, das eine Imitation von Holz und an vielen Stellen zerkratzt war. Die Wände waren mit einer hellgrünen Tapete überzogen, die sich bereits leicht wellte und von der Mauer löste. Es gab keine Bilder oder sonstige Ziergegenstände, die die Atmosphäre auflockerten, selbst die vormals weißen Vorhänge waren vergilbt. Als ihm Jenny gesagt hatte, sie hätte eine Wohnung, wo er für die Dauer des Undercovereinsatzes bleiben konnte, hatte er nicht damit gerechnet, dass sie so eine Bruchbude ausgesucht hatte, wo er durch die Wände die Streitereien der anderen Bewohner des Hauses mitverfolgen konnte, ganz zu schweigen von dem Geschrei eines Babys, das in regelmäßigen Abständen erklang. Nicht, dass er etwas gegen Kleinkinder hätte, aber seine Nerven waren momentan ein wenig angespannt und das laute Weinen ging ihm ziemlich auf den Geist.
Gibbs trank seinen Kaffee in einem Zug leer, stellte die Tasse auf dem Tisch ab und holte aus der Hosentasche sein Portemonnaie hervor, das er neben dem Becher legte. Für ein paar Sekunden starrte er es an, unfähig es aufzumachen, in dem Wissen, was er darin fand. Darin war ein Bild enthalten, was er von Tony mitgenommen hatte und er wusste, es wäre ein Fehler, es sich anzusehen, besonders nach letztem Abend, wo er beinahe seine Deckung auffliegen hätte lassen. Eine weitere Minute kämpfte er mit sich, ehe er mit leicht zitternden Fingern die Geldtasche schließlich wieder nahm, sie zögernd öffnete und sich gleichzeitig für seine Schwäche verfluchte. Wieso konnte er dem Drang nicht einfach widerstehen? Wieso musste er sich damit selbst verletzen, indem er diesem nachgab?
Mit schneller klopfendem Herzen griff er nach dem Foto, das er neben seinem Geld aufbewahrte, legte das Portemonnaie wieder auf den Tisch zurück und entfaltete das Bild, das er in der Mitte umgeknickt hatte, damit es Platz bei den Dollarscheinen fand. Darauf war Tony zu sehen, einen Beweismittelbeutel in Händen haltend, während auf seinem Gesicht ein strahlendes Lächeln prangte, das ihn zusätzlich mit dem Basecap, das er verkehrt auf seinem Kopf trug, um einiges jünger erscheinen ließ. Im Hintergrund waren ein Spielplatz zu erkennen und vom Herbst mit bunten Blättern versehene Bäume. Die Aufnahme war an einem Tatort entstanden und von McGee gemacht worden, der an diesem Tag damit beauftragt worden war, die Umgebung zu fotografieren. Tim hatte es ihm nach dem Abschluss des Falles geschenkt und gemeint, er hätte sicher eine bessere Verwendung dafür. Seit diesem Tag hatte er das Bild immer in seiner Geldtasche und selbst für den Auftrag hatte er es nicht übers Herz gebracht, es herauszunehmen.
Ein kleines, aber trauriges Lächeln, umspielte Gibbs' Lippen, als er zärtlich mit einem Finger die Konturen von Tonys Gesicht nachfuhr und sich wünschte, seine Haut spüren zu können, anstatt die glatte Oberfläche des Fotos. Grüne, vor Humor funkelnde Augen blickten ihn an und für ein paar Sekunden verlor er sich in ihnen, während er weiter die Konturen von seinem Freund nachfuhr. Sein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen und er wusste, dass es besser wäre, das Bild wieder zu verstauen, aber er konnte sich einfach nicht von dem vertrauten Gesicht lösen. Jethro war sich bewusst, dass er sich in diesem Moment nicht wie ein professioneller Bundesagent verhielt, sondern wie ein schwer verknallter Teenager, aber ihm war es egal. Wie lange würde er es wohl ohne Anthony aushalten? Würde er es schaffen, den Auftrag vorher zu erledigen, bevor er sich entschied, seinem Freund zu sagen, dass er noch lebte?

Gibbs war so in die Betrachtung des Bildes vertieft, dass er erst nach ein paar Sekunden mitbekam, dass sein Handy klingelte. Blinzelnd kehrte er in die Realität zurück und legte etwas widerwillig das Foto aus der Hand, bevor er in seine Hosentasche griff und das kleine Gerät hervorholte. Er brauchte nicht nachzusehen, wer ihn anrief, da es nur eine einzige Person gab, die diese Nummer kannte. Unwillkürlich fragte er, ob etwas passiert war, dass sich Jenny fast drei Stunden vor dem verabredeten Zeitpunkt meldete. Angst krampfte seine Eingeweide zusammen, als ihm der Gedanke kam, dass Tony etwas geschehen war, einen anderen Grund konnte er sich nicht vorstellen, warum ihn seine Vorgesetzte jetzt anrief, zumal sie diejenige gewesen war, die darauf bestanden hatte, die Termine, an denen sie miteinander telefonierten, strikt einzuhalten.
Mit ungewohnt zittriger Hand klappte er das Handy auf und sagte geradeheraus: „Was ist passiert? Geht es Tony gut?" Für ein paar Sekunden war es am anderen Ende der Leitung still und würde er das Atmen von Jen nicht vernehmen, würde er glatt annehmen, dass sie wieder aufgelegt hatte. „Nichts ist passiert, Jethro. Agent DiNozzo geht es hervorragend", antwortete sie schließlich und unglaubliche Erleichterung durchflutete ihn. Er hatte schon mit dem Schlimmsten gerechnet. Aber weswegen meldete sie sich dann, wenn es nichts mit seinem Freund zu tun hatte? Hatte sie vielleicht neue Informationen oder wollte sie nur so mit ihm reden?
„Was gibt es sonst?" wollte er deswegen wissen, lehnte sich in dem Stuhl zurück und entspannte sich ein wenig. Sein Herzschlag beruhigte sich und er blickte wieder aus dem Fenster in den Himmel, wo sich in den letzten Minuten mehr Wolken gebildet hatten. Gibbs konnte sich gut vorstellen, wie Jen an ihrem Schreibtisch saß, den Telefonhörer in der Hand und an ihren kurzen Haaren herumzupfte. „Es geht um Tony", sagte sie nach ein paar Sekunden und er hätte schwören können, dass er hörte, wie sie mit den Fingern auf der Tischplatte herumklopfte. „Ich dachte, ihm geht es gut", meinte er und setzte sich kerzengerade auf. „Das tut es auch, bis auf die Tatsache, dass er angefangen hat, herumzuschnüffeln. Er glaubt nicht an einen Autounfall und hat Abby damit beauftragt, die Überreste deines Wagens zu untersuchen." Ihre Worte zauberten ihm ein breites Lächeln ins Gesicht und er blickte auf das Foto, das weiterhin auf dem Tisch lag. Zärtlichkeit gepaart mit unglaublichem Stolz breitete sich in seinem Inneren aus. Jethro konnte nichts gegen das leise Lachen machen, das ihm entschlüpfte, weswegen Jen hörbar Luft holte.
„Findest du das etwa witzig?" fragte sie erbost und er würde jede Wette eingehen, dass sie in diesem Moment ihre Augenbrauen ärgerlich zusammenzog. „Nun, was hast du erwartet?" antwortete er und griff nach der Tasse, bevor ihm wieder einfiel, dass er den Kaffee bereits ausgetrunken hatte. „Tony ist immerhin mein bester Agent und es hätte mich gewundert, wenn er einfach tatenlos herumsitzen und keine Fragen stellen würde." „Aber dir ist schon bewusst, dass dadurch der ganze Auftrag gefährdet werden könnte? Vor allem, wenn er dahinter kommt, bevor du herausgefunden hast, was…" „Hör auf, dir unnötig Sorgen zu machen, Jen", unterbrach er sie kurzerhand und schüttelte den Kopf. „Die Wahrscheinlichkeit, dass Tony vorzeitig dahinter kommen wird, ist mehr als gering, außer du streust genug Brotkrumen aus und das wirst du nicht machen." „Die Brotkrumen habe ich schon ein wenig gestreut", gestand sie und hörte sich dabei ungewohnt kleinlaut an. „Ich habe ihm erlaubt, Abby den Wagen untersuchen zu lassen. Kaum zu glauben, dass ich es nicht verhindert habe. Aber er hat mir deutlich gemacht, dass er so oder so Mittel und Wege finden würde, das zu tun. Ich hätte ihn zwingen können, Urlaub zu nehmen und er hätte sicher weiter Fragen gestellt."
Gibbs konnte nicht anders als breit zu grinsen – das war sein Tony, ließ sich einfach nicht unterkriegen und setzte sich sogar gegen die Direktorin durch. Also war er doch kein so schlechter Lehrer und sein Freund übernahm ein paar seiner eigenen Verhaltensweisen.
„Agent DiNozzo hat einen unglaublichen Sturkopf", fügte Jenny hinzu, in dem Bestreben, irgendetwas zu sagen. „Das ist auch wahrscheinlich der Grund, warum wir so perfekt zusammenpassen", erwiderte Gibbs und blickte erneut auf das Foto. Wie sehnte er sich danach, seine Hände in diesen verwuschelten Haare zu vergraben. Es erfüllte ihn mit Stolz, dass Anthony nachforschte und Jethros Tod nicht so ohne weiteres hinnahm. Es war gut, dass er sich nicht zu Hause vergrub, sondern etwas gefunden zu haben schien, mit dem er sich beschäftigen konnte, auch wenn es bedeutete, dass er nach einen Mörder suchte, den es nicht gab.

„Übrigens, ich brauche einen zweiten Wagen, Jen", sagte Gibbs schließlich, vor allem deswegen, um sich von seiner Sehnsucht nach seinem Freund abzulenken. „Wofür brauchst du einen zweiten Wagen?" wollte sie wissen und konnte die Verwirrtheit nicht ganz aus ihrer Stimme verbannen. „Erzähl mir jetzt nicht, du hast den anderen zu Schrott gefahren. Hast du schon einmal etwas von einem begrenzten Budget gehört? Ich kann nicht einfach…" „An dem Wagen ist nicht einmal ein Kratzer", unterbrach er seine Vorgesetzte unwirsch und wünschte sich, er hätte noch ein wenig Kaffee übrig. Er brauchte unbedingt mehr Koffein.
„Aber Darien hat einen GPS Sender anbringen lassen. Ich habe ihn gestern entdeckt." „Einen GPS Sender?" „Ja, du weißt schon, diese kleinen Dinger, mit denen man den Standort von…" „Ich weiß, was das ist, Jethro." Ihre Stimme klang mittlerweile ungehalten und ziemlich ungeduldig. „Dann weißt du auch, dass ich diesen Wagen nicht benutzen kann, wenn ich nicht will, dass Darien weiß, wo ich mich aufhalte. Oder soll ich mich in Zukunft mit öffentlichen Verkehrsmitteln fortbewegen?" Gibbs' Stimme troff vor Sarkasmus und er konnte nicht verhindern, dass er sich in einer U-Bahn sah, eingequetscht zwischen zahlreichen Menschen – eine nicht gerade nette Vorstellung.
Wenigstens konnte er von Glück sagen, dass er seinem ehemaligen besten Freund nicht verraten hatte, wo er wohnte, sonst wäre das Apartment sicherlich bereits verwanzt worden. Er hatte auch nicht erwartet, dass ihm Darien nach so kurzer Zeit über den Weg traute.
Für ein paar Sekunden war es am anderen Ende der Leitung still und er frage sich unwillkürlich, ob Jen aufgelegt hatte, widerstand aber dem Drang, nachzubohren, ob sie noch dran war. In einer der anderen Wohnungen begann im selben Moment das Baby zu weinen und er schloss seine Augen, rang um Geduld.
„Na schön", meldete sie sich schließlich. „Du bekommst einen zweiten Wagen. Ich gebe dir noch Bescheid, wo du ihn abholen kannst." Erleichterung durchflutete ihn, dass er auch weiterhin auf die U-Bahnen verzichten konnte. Und auf einmal kam ihm das Gebrüll des kleinen, menschlichen Lebewesens nicht mehr ganz so schrill und schrecklich vor.
„Danke, Jen", sagte er und meinte es auch so. Jetzt brauchte er nicht mehr zu befürchten, dass Darien ständig wusste, wo er sich aufhielt.
„Schon in Ordnung. Ich muss los, eine Videokonferenz wurde für halb zehn angesetzt." „Bis nachher", verabschiedete er sich und konnte gerade noch verhindern zu sagen, dass sie Tony im Auge behalten sollte, um sicher zu gehen, dass es ihm auch weiterhin halbwegs gut ging. Aber er wusste instinktiv, dass sie das sowieso machen würde, schon alleine deswegen um zu verhindern, dass er zu viel herausfand.
Gibbs klappte das Handy zu, legte es auf den Tisch und wandte sich erneut dem Foto zu. Das Lächeln von Tony erhellte dessen Gesicht und strahlte mindestens genauso wie die Sonne an diesem Tag. Damals war ihre Welt noch in Ordnung und sie waren glücklich gewesen, einander zu haben und jetzt stand er kurz davor, das alles zu verlieren.
Sachte fuhr er mit dem Zeigefinger über das Bild, immer und immer wieder. „Ich liebe dich", flüsterte Jethro und schluckte den großen Kloß in seinem Hals hinunter, bevor er das Foto schließlich nahm und es nach einem letzten Blick im Portemonnaie verstaute. Ihm war bewusst, wenn er es noch länger ansehen würde, würde er seiner Sehnsucht bald nicht mehr widerstehen können.
Entschlossen stand er auf, um sich einen fischen Kaffee zu machen. Es war an der Zeit, sich erneut mit Darien zu beschäftigen, auch wenn es ihm mehr als schwer fiel, vor allem, weil ihm Tony ständig durch den Kopf ging und ihm klar machte, wo er jetzt sein könnte. Worauf hatte er sich da nur eingelassen? Aber jetzt war es zu spät, sich darüber Gedanken zu machen – es gab kein Zurück mehr.

Fortsetzung folgt...
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