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Der Aufzug brachte mich innerhalb von Sekunden in den Keller, wo im Gegensatz zum Großraumbüro keine Hektik herrschte, nicht einmal das Klingeln eines Telefons war zu hören. Hier unten war es totenstill, was größtenteils an den Bewohnern lag, die vorübergehend in den Kühlfächern einquartiert worden waren, bis man sie endgültig begrub.
Und genau wegen jemandem, der in einem dieser Fächer seine vorübergehend letzte Ruhe gefunden hatte, hatte ich mich entschieden, in die Pathologie zu fahren, auch wenn ich nicht einmal selbst wusste, wann ich diese Entscheidung getroffen hatte. Ich wusste auch nicht, warum ich es mir antat, in die Autopsie zu gehen, vor allem, da ich mir damit nur selbst weh tun würde, aber ich konnte einfach nicht anders. Es war wie ein innerer Zwang, der mich hier herunter getrieben hatte. Nur, was erhoffte ich mir zu finden? Inneren Frieden? Eine Eingebung, wer Gibbs eventuell ermordet hatte? Irgendetwas, das mir den Schmerz nehmen würde? Oder wollte ich einfach nur in der Nähe des Mannes sein, den ich liebte? Zu wissen, dass er nicht weit von mir entfernt war, trieb mich zur Eile an und innerhalb von wenigen Sekunden öffneten sich die Türen leise zischend, um mich in die Pathologie einzulassen.
Die Stille kam mir noch erdrückender vor, nur das leise Summen der Klimaanlage war zu hören. Weder Ducky noch Palmer hielten sich in dem großen Raum auf, obwohl ich irgendwie damit gerechnet hatte, dass einer von ihnen anwesend sein würde. Es kam äußerst selten vor, dass keiner der beiden hier war, aber ich beschwerte mich nicht – im Gegenteil. Es war mir mehr als Recht, dass ich alleine war, alleine mit Jethro, dessen Körper sich in einem der Kühlfächer befand.
Meine Schritte wurden langsamer und mein Herz schlug mir bis zum Hals, der auf einmal ziemlich eng war. Aus einem mir unerfindlichen Grund hatte ich auf einmal Probleme mit dem Atmen und ich blieb zögernd neben Duckys Schreibtisch stehen, wo eine Liste lag, in der eingetragen war, in welchem Fach sich wer befand. Ich warf meine Jacke auf den Stuhl und trotz der Kühle in der Pathologie begann ich leicht zu schwitzen, aber dennoch trat ich nicht den Rückzug an. Entschlossen holte ich tief Luft, ehe ich mit den Augen die Spalten der Tabelle absuchte, bis ich den mir allzu vertrauten Namen gefunden hatte. Ich hätte nie damit gerechnet, dass Gibbs jemals hier unten landen würde, hatte irgendwie immer gedacht, er wäre unverwundbar, oder etwas in dieser Art. Der Kloß in meinem Hals wurde größer, als ich die Nummer des Faches erkannte, in dem er lag – in demselben, in dem sich Kate befunden hatte. Ob Ducky das absichtlich gemacht hatte? Oder war es nur Zufall?
Ich erinnerte mich noch sehr gut an den Tag, als ich mit McGee an diesem Ort gewesen war, wo wir uns zusammen von ihr verabschiedet hatten. Es war ungewöhnlich gewesen, sie so ruhig zu sehen, so friedlich, als ob sie schlafen würde. Ducky hatte es geschafft, das Loch in ihrer Stirn zu kaschieren, nichts hatte daran erinnert, dass sie erschossen worden war, wären da nicht ihre unnatürlich blasse Haut und die geschlossenen Augen gewesen. Damals hatte ich geglaubt, es wäre das erste und letzte Mal, wo ich hier war, um mich von jemanden aus unserem Team zu verabschieden – wie ich mich doch geirrt hatte.

Ohne weiter darüber nachzudenken, gab ich mir innerlich einen Ruck und ging an dem blank polierten Stahltisch vorbei auf die gegenüberliegende Wand zu, wovor ich stehen blieb und die entsprechende Tür anstarrte, die Tür, hinter der sich der Mann befand, von dem ich gedacht hatte, mit ihm mein restliches Leben zu verbringen. Und jetzt war ich hier, so nahe bei ihm, aber doch so weit entfernt. Eine Barriere aus wenigen Zentimetern trennte uns und es brauchte nur eine kleine Bewegung meinerseits, um das Fach zu öffnen, aber ich brachte es einfach nicht übers Herz, wollte Gibbs so in Erinnerung behalten, wie er all die Jahre über, seit ich ihn kannte, ausgesehen hatte.
Ich wusste, dass der Anblick von Verbrennungsopfern alles andere als schön war, das Fleisch verbrannt und schwarz, teilweise komplett verschwunden, der Knochen entblößt. Wenn noch genug vom Gesicht übrig war, waren oft die schmerzverzerrten Züge zu erkennen, man konnte die Qual sehen, die diese Menschen durchgemacht hatten. Nein, das würde ich mir nicht antun, ich würde mir die Bilder von Jethro in meinem Gehirn nicht durch seine Überreste verderben.
Zitternd hob ich meine rechte Hand und presste sie gegen das kühle, ja beinahe kalte Metall. Zärtlich fuhr ich mit den Fingern darüber, so als ob ich seine Haut liebkosen würde. „Du fehlst mir so", flüsterte ich, trotzdem klang meine Stimme im Vergleich zu der Stille überlaut. „Du fehlst uns allen so. Seit du weg bist, ist nichts mehr normal. Ich hasse den Anblick deines leeren Schreibtisches und du wirst es nicht glauben, aber ich würde alles dafür tun, dass ich nur noch einmal eine Kopfnuss von dir bekomme. Wenigstens einmal."
Ich lehnte meine Stirn gegen die kleine Tür, nahm die Kälte des Metalls fast nicht wahr. Es war das zweite Mal – nach Kate - dass ich mit einem Toten redete, hatte es immer für verrückt gehalten, wenn es Ducky gemacht hatte, aber jetzt stand ich hier und unterhielt mich mit Jethro, in dem vollen Bewusstsein, dass er mir nicht antworten würde.
„Wieso bist du bloß nach Norfolk gefahren? Wer oder was hat dich dorthin getrieben? Warum hast du mir nicht davon erzählt? Wolltest du mich wirklich nur beschützen? Gib mir doch einen Hinweis, wo ich suchen soll. Nur einen, das würde bereits genügen." Meine Stimme wurde heiser und ich versuchte den riesigen Kloß in meinem Hals zu ignorieren. In einer hilflosen Geste ballte ich meine Hand zur Faust und schlug ein paar Mal mit meiner Stirn gegen die Tür, aber selbst der körperliche Schmerz schaffte es nicht, den psychischen ein wenig zu lindern. Vor ein paar Minuten, als ich noch oben gewesen war, bei Ziva und McGee, war es mir halbwegs gut gegangen, aber jetzt stürmte alles erneut auf mich ein, vor allem deswegen, weil Gibbs im Prinzip hier bei mir, aber trotzdem unerreichbar war.
Meine Augen fingen zu brennen an und ich blinzelte heftig, aber es brachte nichts. „Wieso tust du mir das an?" fragte ich leise, während die ersten stummen Tränen meine Wangen hinunterliefen. „Wieso lässt du mich alleine? Wieso?" Ich schlug mit der Faust gegen das Metall, wünschte mir, dass Jethro durch den Lärm gestört wurde, aber nichts rührte sich, alles blieb ruhig.
Die aufsteigenden Schluchzer schluckte ich tapfer hinunter und ich wusste, dass ich mich bald wieder zusammenreißen musste, da ich nicht mehr viel Zeit hatte, bevor ich mit McGee zu dem Zeugen fahren würde. Vielleicht erhielten war ja von ihm eine Antwort, die etwas Licht in die ganze Angelegenheit brachte.
Aber ich schaffte es einfach nicht, mich vom Fleck zu rühren, stand weiterhin an die Kühlfächer gelehnt da und begann erneut, mit meinen Fingern sachte über die kleine Tür zu fahren. Meine Wut, dass mich mein Freund einfach alleine ließ, verschwand so schnell wie sie gekommen war und hinterließ nichts weiter als stumme Tränen. Anstatt sie jedoch zu unterdrücken, ließ ich sie zu, da ich wusste, dass ich mich danach besser fühlen würde und nicht so, als ob jemand genüsslich jemand mein Innerstes mit einem Löffel herauskratzen würde.

„Tony?" Eine Hand wurde mir auf die Schulter gelegt und ich zuckte unwillkürlich zusammen. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, wie lange ich insgesamt schon an dieser Stelle gestanden war und nichts weiter wahr genommen hatte als das Metall unter meinen Fingern und die salzigen Tränen, deren Strom endlich versiegt war und die langsam auf meiner Haut trockneten. Ich hatte nicht einmal gehört, wie sich die Türen der Pathologie geöffnet hatten und somit auch nicht mitbekommen, dass Ducky neben mir stand. Ich war regelrecht erleichtert, dass er es war und nicht Jimmy. Ich wusste nicht, was ich machen würde, wäre es dieser, der sich jetzt bei mir befand.
Schnell wischte ich mir mit dem Hemdsärmel über meine feuchten Wangen, um die verräterischen Spuren zu vernichten, aber mir war klar, dass ich den älteren Mann damit nicht täuschen konnte. Er würde sofort merken, dass ich geweint hatte und er war auch der Einzige, bei dem es mir nicht wirklich etwas ausmachte, dass er es mitbekam, nicht nach gestern, wo er mich im Bootskeller getröstet hatte. Ich drehte mich um und blickte auf Ducky hinunter, der mich eingehend musterte und an meinen Augen hängen blieb, die sicher glasig wirken mussten, ging aber auf meinen Zustand nicht näher ein. Stattdessen drückte er aufmunternd meine Schulter und spendete mir damit mehr Trost als es einfache Worte je geschafft hätten.
„Was machst du hier unten?" fragte er schließlich, obwohl er sich die Antwort bereits denken konnte. Wir hatten keinen aktuellen Fall und es gab demnach nur einen Grund, der mich in den Keller geführt hatte. „Ich wollte nur jemandem hallo sagen", erwiderte ich und lächelte leicht. „Auf einmal kommt es mir gar nicht mehr so seltsam vor, mit einem Toten zu reden. Ich wünschte nur, Jethro hätte gehört, was ich ihm gesagt habe." Erneut überkam mich Traurigkeit, aber ich drängte sie zurück. Ducky drückte mir noch einmal die Schulter ehe er mich losließ. „Die Toten finden andere Wege, um mit uns zu kommunizieren", sagte er, nahm seine Brille ab und putzte sie mit einer Ecke seines Jacketts.
„Hast du ihn gesehen?" wollte ich wissen und legte erneut meine Hand auf das Kühlfach, in dem Gibbs lag. Der Pathologe setzte sich seine Brille wieder auf und stellte sich vor mich, sodass er mich direkt anblicken konnte. „Ja, ich habe ihn gesehen, Tony", antwortete er leise und es war offensichtlich, dass es ihm schwer gefallen war. „Du bist nicht der Einzige, der ihm hallo sagen wollte und ich habe mich entschlossen, es von Angesicht zu Angesicht zu machen." „Etwas, das ich nicht geschafft habe", murmelte ich und wurde ein wenig verlegen.
„Du brauchst dich deswegen nicht zu schämen", meinte Ducky und lächelte mich beruhigend an. Er schien immer zu wissen, wie es in meinem Inneren zuging. „Es ist keine Schande, wenn du Jethro so in Erinnerung behalten willst, wie er ausgesehen hat, ehe es zu diesem bedauerlichen Zwischenfall gekommen ist. Obwohl, du glaubst nicht an einen Unfall, oder? Abby hat es mir erzählt", fügte er bei meinem fragenden Gesichtsausdruck hinzu. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass er einfach so die Kontrolle über seinen Wagen verloren hat. Nicht Jethro, egal wie schrecklich sein Fahrstil ist… war." Ich schaffte es noch immer nicht, in der Vergangenheit von ihm zu sprechen und ich hatte keine Ahnung, ob ich es jemals könnte.
Erneut blickte ich die Tür des Kühlfaches an, fuhr sachte mit meinen Fingern darüber. „Hat er gelitten?" fragte ich nach ein paar Sekunden leise, so als ob ich mich vor der Antwort fürchten würde. Aber ich musste es wissen, musste Gewissheit haben. Ducky seufzte leise und bedeute mir mit einem Nicken seines Kopfes, ihm zu seinem Schreibtisch zu folgen. Schweren Herzens ließ ich Gibbs alleine zurück, unterbrach den Kontakt zu seinem vorübergehenden neuen Zuhause und ging dem Pathologen nach, der meine Jacke vom Stuhl nahm und sie mir gab, ehe er sich setzte. „Ich habe den Autopsiebericht von Oliver Beacon gelesen. Er ist Pathologe in Norfolk und wirklich kompetent. Jethro war bei ihm in guten Händen, auch wenn es nicht wirklich viel zu obduzieren gegeben hat." Bei diesen Worten verkrampfte sich mein Herz schmerzhaft und ich biss mir auf die Unterlippe, schwieg aber.
„Ich habe mir die Röntgenbilder eigenhändig angesehen und Gibbs muss mit dem Kopf irgendwo unglücklich aufgeschlagen sein, jedenfalls hatte er eine kleine Fraktur des Schädelknochens. Er war wahrscheinlich bewusstlos, als der Wagen in Flammen aufgegangen ist." „Wahrscheinlich?" „Nun, ganz sicher kann ich es nicht sagen. Natürlich kann er noch bei Bewusstsein gewesen sein, vor allem, da Jethro ein unglaublich großer Sturkopf war. Aber die Wahrscheinlichkeit ist gering." Ducky legte mir beruhigend die Hand auf meinen Unterarm und ich nickte dankbar. Zu wissen, dass Gibbs wahrscheinlich nichts gespürt hatte, ließ mich meinen Schmerz ein wenig leichter ertragen.
Ein wenig erleichtert zog ich meine Jacke an – es war Zeit, Kyle Zeke einen Besuch abzustatten und McGee nicht länger warten zu lassen. Obwohl ich nicht genau wusste, seit wann ich in der Pathologie war, so waren es sicher bereits mehr als 15 Minuten.
„Ich muss gehen, Duck", sagte ich und steckte meine Hände in die Taschen. „McGee und ich fahren zu dem Zeugen, der den Unfall beobachtet hat. Vielleicht bin ich nachher ein wenig schlauer." „Du wirst es bestimmt herausfinden, wenn es ein Mord gewesen und wer dafür verantwortlich ist, Tony, aber wäre es nicht besser, Ziva und Timothy hinzuschicken?" Ich schüttelte den Kopf. „Ich muss das selbst erledigen. Ich muss einfach." Ducky versuchte nicht, mir meine Entscheidung auszureden, sondern nickte nur verständnisvoll.
Ich schenkte ihm ein letztes Lächeln, bevor ich Richtung der Türen ging, aber bevor sie sich öffneten, drehte ich mich noch einmal um. „Du passt auf ihn auf, nicht wahr?" fragte ich und blickte ein letztes Mal zu dem Kühlfach, in dem Gibbs lag. „Natürlich werde ich das", antwortete Ducky und richtete seine ein wenig schiefe Fliege. „Jetzt kann ich ihm wenigstens meine Geschichten erzählen, ohne dass er mir wegläuft."
Ich konnte nicht anders als zu lächeln und verließ die schließlich die Pathologie. Die Entscheidung, hier herunter zu kommen, war richtig gewesen und ich ertrug den Verlust ein bisschen leichter, auch wenn es weiterhin unglaublich schmerzte. Es würde noch lange dauern, bis die Wunden verheilt waren, aber eines wusste ich jetzt bestimmt: je mehr Zeit verging, desto besser würde ich damit umgehen können. Ducky hatte wieder einmal Recht gehabt.

Fortsetzung folgt...
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