- Text Size +
Jethro stand hinter einem dicken Baum und beobachtete seit geraumer Zeit den Eingang des Friedhofes. Menschen unterschiedlichen Alters gingen aus und ein, um ihre Liebsten zu besuchen, um mit ihnen den wunderschönen Wintertag für ein paar Minuten zu genießen. Aber Gibbs war nicht hier, um sich diese Leute anzusehen, er war wegen etwas ganz anderem hier, wegen etwas, von dem er wusste, dass es wahrscheinlich ein großer Fehler war.
Er steckte seine Hände in die Taschen seines Mantels und berührte mit den Fingern seiner rechten Hand einen Zettel, auf dem nur wenige Worte standen, Worte, für die er über eine Stunde gebraucht hatte, um sie zu schreiben. Jethro war an dem Tisch in der schäbigen Küche des Mietapartments gesessen und hatte einen Papierball nach dem anderen produziert, da er jedes Mal erneut darüber nachgedacht hatte, welchen Schritt er dabei war, zu gehen. Der eine Satz an sich war kein Problem gewesen – diesen hatte er schon seit gestern gewusst – aber die Konsequenz, die sich daraus ergeben würde, machte ihm Angst. Und Jen würde ihm wohl oder übel den Kopf abreißen.
Er hatte die gesamte letzte Nacht damit verbracht, darüber nachzudenken, was er im Begriff war zu tun, hatte sich das Für und Wider überlegt, bis er nicht mehr länger im Bett liegen bleiben hatte können. Stattdessen hatte er sich ins Wohnzimmer gesetzt, hatte das Bild von Tony aus seiner Brieftasche geholt und sich das Gesicht seines Freundes angesehen, die funkelnden grünen Augen. Der fröhliche Ausdruck hatte sich aber binnen Sekunden verändert, hatte unendlicher Trauer Platz gemacht und das hatte Gibbs einen heftigen Stich ins Herz versetzt. Je länger er mit der Lüge lebte, tot zu sein, desto schwerer fiel es ihm, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren.
Selbst Darien hatte am Mittwoch mitbekommen, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung war, dass er immer wieder mit den Gedanken abschweifte und nicht bei der Sache war. Er hatte Coolidge etwas von Kopfschmerzen erzählt und war mit einem Aspirin und einem großen Glas Wasser belohnt worden. Obwohl es ihm körperlich gut ging, hatte er die Tablette geschluckt, um keinen Verdacht zu erregen.
Mental sah es jedoch ganz anders aus. Mit jeder Minute, die er länger ohne Tony verbrachte, sehnte er sich mehr nach ihm, glaubte sogar, ihn manchmal in der Fabrik zu erkennen, obwohl er wusste, dass das nicht möglich war. Dennoch, seine Gefühle für Anthony gefährdeten langsam aber sicher den gesamten Auftrag. Nicht einmal mehr das Versprechen, wegen dem er überhaupt dem ganzen zugestimmt hatte, konnte seine Sehnsucht lindern.

Und dann hatte er von Jen erfahren, dass am Donnerstag die Beerdigung stattfinden würde. Ursprünglich hatte Jethro geglaubt, dass diese nie erfolgen würde, dass er vorher den Auftrag zu Ende bringen würde, aber dies war ihm nicht gelungen. Es kam ihm falsch vor, dass ein anonymer Obdachloser unter seinem Namen in einem Grab liegen würde, unter seinem Namen ein Begräbnis bekam, das für ihn bestimmt war. Sämtliche Agenten würden einem Fremden die letzte Ehre erweisen, Tony würde sich von einem Unbekannten verabschieden, würde glauben, es wären die Knochen seines Freundes, die sich in dem Sarg befanden.
Genau diese Tatsache hatte schlussendlich dazu geführt, dass sich Gibbs entschieden hatte, zum Friedhof zu fahren, mit dem kleinen Zettel in der Tasche, der entweder alles zunichte machen oder durch den sich vielleicht alles zum Guten wenden würde.
Nichtsdestotrotz zögerte er noch immer, die Straße zu überqueren und zu dem blauen Mustang zu gehen, der Tony gehörte. Er wollte so sehr, dass ihm Anthony, wenn er die Nachricht erhielt, in ein paar Stunden um den Hals fiel, dass er einfach nur glücklich war, dass Gibbs noch lebte, aber das war wohl ein Wunschdenken. Und er könnte es seinem Freund nicht einmal verübeln, wenn dieser wütend werden sollte.
Zusätzlich bestand die Gefahr, dass dieser den einen Satz für verrückt, als Scherz hielt und den Zettel ignorierte. Und die Möglichkeit, dass ihm Dariens Männer folgten, war auch gegeben, wobei ihm das nicht so viel Kopfzerbrechen machte. Jetzt, wo er den Zweitwagen hatte, schaffte er es mühelos, sich seinen Verfolgern zu entledigen und er vergewisserte sich immer, dass niemand vor seiner Wohnung herumschlich oder sich verdächtig benahm. Jethro konnte es immerhin aus einer Meile Entfernung riechen, wenn etwas nicht stimmte und noch dazu stellten sich Coolidges Männer nicht sehr geschickt an. Auch diesmal war er sich sicher, dass niemand in seiner Nähe war, dass keiner einen Schimmer hatte, wo er sich zurzeit aufhielt.

Es war beinahe 15 Uhr und er musste sich beeilen. Darien hatte ihn ein weiteres Mal in seine Wohnung eingeladen und vielleicht hatte er diesmal Glück, den versperrten Raum aufzubekommen. Oder er bekam ihn freiwillig zu sehen. Egal wie es verlaufen würde, Gibbs würde um keinen Preis der Welt am Abend an den Ort zu spät kommen, den er auf den Zettel geschrieben hatte. Wie es danach weitergehen würde, das würde sich schlussendlich zeigen.
Er hätte es nie für möglich gehalten, dass ihn die Liebe derart beeinflussen würde, aber wie er Ducky einmal gesagt hatte, brachte diese Seiten an ihm zum Vorschein, von denen er gar nicht gewusst hatte, dass es sie gab. Wäre Darien vor einem Jahr aufgetaucht, hätte er den Auftrag durchgezogen, hätte ohne darüber nachzudenken alles gemacht, um sein Versprechen zu erfüllen. Aber seit Tony der wichtigste Teil seines Lebens war, hatte sich das geändert. Jethro wusste, dass er Anthony von Anfang an einweihen hätte sollen, auch wenn es ihm Jen verboten hatte. Er hatte alles ganz falsch angepackt, hatte sich von der Tatsache, dass Darien noch lebte, einfach übermannen lassen und jetzt war es zu spät. Jetzt konnte er nur mehr hoffen, dass er alles reparieren konnte, was er kaputt gemacht hatte.

Gibbs seufzte leise, drückte seinen Rücken durch und blickte nach links und rechts, um sich zu vergewissern, dass niemand in seiner Nähe war. Es war an der Zeit, mit der Wahrheit herauszurücken, egal wie schmerzhaft es werden würde. Mit großen Schritten überquerte er die verlassene Straße und eilte zu dem großen Parkplatz, wo er ohne Mühe den Mustang seines Freundes fand. Nicht mehr lange, und die Beerdigung wäre zu Ende. Es blieben ihm wahrscheinlich nur mehr ein paar Minuten, um von hier unbemerkt zu verschwinden.
Mit ungewohnt zittriger Hand holte er den Zettel aus seiner Manteltasche und betrachtete ihn noch einmal stirnrunzelnd. Ein einziger Satz – ein Satz, der alles verändern konnte, dennoch war es für einen Rückzieher zu spät. Je früher er es erledigte, desto besser, desto schneller konnte er hoffentlich Tony wieder in seine Arme schließen.
Sachte strich Jethro über die wenigen Worte, ehe er noch einmal tief Luft holte und die Nachricht unter den Scheibenwischer klemmte. Anschließend berührte er kurz das kühle Metall des Wagens, einen Gegenstand, von dem er wusste, dass Anthony nicht lange zuvor darin gesessen hatte. „Bitte verzeih mir", flüsterte er beinahe unhörbar, bevor er einen Schritt zurücktrat. Er musste von hier weg, ehe er es sich wieder anders überlegte und den Zettel an sich nahm.
Mit einem letzten Blick auf den Mustang drehte er sich um und entfernte sich beinahe laufend von dem Friedhof, von dem Ort, wo es Menschen gab, die glaubten, sich von ihm zu verabschieden. Nur noch ein paar Stunden, dann würde sich zeigen, wie Tony darauf reagieren würde, dass Gibbs noch lebte, wenige Stunden, bevor vielleicht ein Donnerwetter losbrach. In diesem Moment kam Jethro alles noch ruhig vor – zu ruhig. War das eventuell die berühmte Ruhe vor dem Sturm? Er hoffte nicht.

Fortsetzung folgt...
You must login (register) to review.