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Es war eine Wohltat, das Gelände des Friedhofs zu verlassen, auch wenn es mir wie eine kleine Weltreise vorgekommen war. Mit jedem Schritt, den ich Richtung Ausgang gemacht hatte, hatte ich das Gefühl gehabt, dass sich dieser um einen Meter weiter von mir entfernte. Unterwegs hatte ich die Tränen einfach mit dem Ärmel meines Anzugs von meinen Wangen gewischt und mich regelrecht dazu gezwungen, keine weiteren zu vergießen. Je mehr ich mich von dem Grab entfernte, desto mehr hatte ich den Eindruck, einen Teil meines eigenen Lebens hinter mir zu lassen. Eine Hälfte von mir wollte wieder zurückgehen, wollte Jethro nicht alleine lassen, aber die andere Hälfte wollte so schnell wie möglich von hier verschwinden, in der Hoffnung, dass es mir vielleicht besser gehen würde – abseits von den ganzen Menschen und den Blumen, die bald ihre Pracht verlieren und verdörren würden. Alles vergänglich, selbst das Leben wie ich auf schmerzhafteste Weise erfahren hatte müssen. Nichts war für die Ewigkeit geschaffen, nichts würde ewig währen – außer meiner Liebe zu Gibbs. Diese war beständig und ich wusste, sie würde andauern, egal was in Zukunft passieren mochte, sie würde mich begleiten und mir hoffentlich den rechten Weg weisen.

Der pulvrige Schnee knirschte laut unter meinen Schuhen und die Flocken durchnässten langsam aber sicher den Saum meiner Hose. Der Wind frischte auf, zerzauste ein wenig meine Haare und erst jetzt realisierte ich so richtig, wie kalt es im Freien war. Das Wissen, mich von Jethro verabschieden zu müssen, hatte mich gegenüber der Umwelt abgestumpft, hatte mir ein Gefühl der Taubheit beschert, aber jetzt, wo alles vorbei war, traf mich die Kälte umso härter. Ich begann unwillkürlich zu zittern und steckte meine Hände tief in die Anzugsjacke, damit sie nicht erfroren. Die Fingerspitzen begannen unangenehm zu kribbeln, als sich das Blut wieder erwärmte. Meine Ohren fühlten sich eisig an, genauso wie meine Nasenspitze und in dem Bestreben, mich möglichst bald in meinen Wagen zu setzen und dort die Heizung voll aufdrehen zu können, erhöhte ich mein Schritttempo – jedenfalls redete ich mir ein, dass ich mich aufwärmen wollte, aber tief im Inneren wusste ich es besser.
Ich wollte so schnell wie möglich den Friedhof verlassen, wollte endlich, dass ich die Trauer loswurde, wollte mit Gibbs auch den Schmerz in dem Grab lassen. Aber genau das Gegenteil war der Fall – es wurde eher schlimmer als besser und am liebsten würde ich erneut den Tränen freien Lauf lassen. Aber ich wusste, dann würde ich wahrscheinlich Minute um Minute hinter dem Steuer meines Mustangs sitzen, unfähig irgendwohin zu fahren und allen anderen Menschen zeigen, dass ich nur mehr ein Schatten meiner selbst war. Es reichte bereits, dass sie vorhin mitbekommen hatten, dass ich doch nicht der starke DiNozzo war, den ich ihnen in den letzten Tagen vorgespielt hatte.
Bis jetzt hatten nur McGee, Abby, Ziva und Ducky gewusst, wie es wirklich um meinen Gemütszustand bestimmt war, aber vorher war es mir egal gewesen, was die anderen von mir halten mochten. Hingegen war es mir jetzt ein wenig peinlich und ich konnte nur hoffen, dass mich in Zukunft nicht alle mitleidig anblicken würden.

Der Schnee unter meinen Füßen verwandelte sich in nassen und matschigen Asphalt, als ich den Parkplatz betrat. Dieser war größtenteils verlassen, abgesehen von vereinzelten älteren Menschen, die sich zwischen den Wagen hindurchbewegten und Kerzen oder einen Blumenstrauß in Händen hielten. Jeder trug warme Jacken oder Mäntel, mit Mützen, die sie sich tief über die Ohren gezogen hatten, um diese vor dem beißenden Wind zu schützen. Diese Leute teilten alle das selbe Schicksal wie ich, sie hatten jemand von größter Bedeutung verloren, aber so wie sie sich bewegten, so als ob sie keine Eile hätten und sie ihr Ziel kannten, war es nicht das erste Mal, dass sie an diesem Ort waren.
Ich hatte normalerweise nichts gegen Friedhöfe, dort war es immer ruhig, niemand unterhielt sich laut oder störte die anderen Besucher. Niemand kannte den anderen, dennoch war es eine große Gemeinschaft und ab heute gehörte ich zu ihnen, obwohl ich es nicht wollte. In Zukunft würde auch ich durch den Eingang gehen, mit Blumen in der Hand und sie auf einem Grab niederlegen, in der Hoffnung, Jethro wieder ein wenig näher zu sein. Momentan hatte ich aber keine Ahnung, wann ich es übers Herz bringen würde, wieder einen Fuß auf das große Areal zu setzen, viel zu frisch war die Wunde, die die Beerdigung hinterlassen hatte.

Ich schlängelte mich durch die vielen Autos hindurch und eilte auf meinen blauen Mustang zu, der zwischen den dunklen Wagen herausstach. Ich hatte absichtlich nahe an der Straße geparkt, um so schnell wie möglich von hier verschwinden zu können, noch bevor mich jemand einholen konnte, um mir anzubieten, doch mit ins Hotel zu fahren. Essen war jedoch das Letzte, woran ich denken wollte, es war schon ein Wunder, wenn ich heute Abend etwas hinunterbekommen würde. Der Gedanken an Nahrung bereite mir aber vorübergehend Übelkeit und ließ meine Eingeweide zusammenkrampfen. Ich wollte einfach nur ein wenig herumfahren, an nichts denken, nur für mich alleine sein.
Morgen würde ich wieder in den Alltag zurückkehren und jetzt, wo ich mich endgültig von Jethro verabschiedet hatte, würde ich es vielleicht schaffen, mich an seinen Schreibtisch zu setzen, seine alten Sachen auszuräumen und sämtliche Schubladen mit meinem Kram zu füllen. Aber ich wusste, darüber nachzudenken war leichter, als es in die Tat umzusetzen und es würde mich wahrscheinlich immense Überwindung kosten, meinen alten Platz aufzugeben.

Ich holte meinen Schlüssel aus der Hosentasche und wollte bereits die Fahrertür aufsperren, als ich einen kleinen, weißen und zusammengefalteten Zettel bemerkte, der unter den Scheibenwischer geklemmt worden war, damit ihn der Wind nicht davon wehen konnte. Ich runzelte die Stirn, als mir unwillkürlich in den Sinn kam, dass mir doch tatsächlich jemand einen Strafzettel verpasst hatte, obwohl ich garantiert nicht im Parkverbot stand. Aber die Form des Papiers hatte die gleiche Größe und ich konnte mir nicht vorstellen, was es sonst sein sollte.
‚Klasse', dachte ich in einem Anflug von Zynismus, nahm die Sonnenbrille ab und steckte sie in die Brusttasche der Anzugsjacke, ehe ich mich kurz im Kreis drehte, um zu sehen, ob irgendwo ein Polizist zu sehen war, dem es anscheinend Spaß machte, an Trauergäste willkürlich Strafzettel zu verteilen. Aber niemand in Uniform war in der Nähe und ich erkannte auch, dass den Wagen neben meinem nichts unter dem Scheibenwischer geklemmt worden war. Folglich konnte es auch keine Werbung für das neueste Angebot eines Supermarktes sein. Und normalerweise waren diese Blätter bunt und nicht nüchtern weiß.
Ich blickte mich noch einmal um und bemerkte, dass meine Freunde auf mich zukamen, gefolgt von ein paar anderen Agenten, die zu ihren Autos strebten. Es würde nicht mehr lange dauern und ich würde nicht mehr alleine sein und da ich nicht wollte, dass alle mitbekamen, dass ich es geschafft hatte, einen Strafzettel zu kassieren, beugte ich mich nach vorne und riss das Stück Papier unter dem Scheibenwischer hervor – in dem Bestreben, meine Strafe nicht zu bezahlen, da ich nichts Unrechtes getan hatte.
Etwas wütend faltete ich den Zettel auf, aber innerhalb des Bruchteils einer Sekunde hatte ich das Gefühl, jemand hätte mich in eine Wanne voller Eiswasser getaucht. Mir stockte der Atem, mein Herz setzte einen Schlag aus, nur um mit doppelter Geschwindigkeit weiterzuschlagen und die Hand, die das Blatt hielt, fing an zu zittern. Ich starrte schockiert auf die Wörter, starrte auf die Schrift, die mir so vertraut war, dass sie meine eigene hätte sein können. Für einen kurzen Moment schrumpfte die Welt auf die Buchstaben zusammen, die vor meinen Augen verschwammen, bevor sie sich wieder verfestigten.
Ich blinzelte ein paar Mal, da ich glaubte, ich würde träumen, dass mein Gehirn ein Bild produzierte, das nicht möglich sein konnte, dass mich die Beerdigung doch vollkommen aus der Bahn geworfen hatte. Aber nichts änderte sich, alles blieb gleich, weshalb ich mich kurz in den Arm zwickte, aber auch das nützte nichts. Mein stockender Atem hatte sich mittlerweile in ein Keuchen verwandelt und ich drehte mich erneut im Kreis, suchte nach der Person, die diese Nachricht verfasst hatte, aber ich wusste, dass das nicht möglich war. Das Ganze musste ein Scherz sein – ein grausamer Scherz, den sich jemand mit mir erlaubte.
Ich senkte meinen Kopf und blickte erneut auf den Zettel, mein Herz ein einziger schmerzhafter Klumpen, als ich zu realisieren versuchte, dass es irgendwen gab, der mir anscheinend unbedingt weh tun wollte. Südliches Ende vom East Potomac Park, 22 Uhr – ich warte beim Spielplatz auf dich.
Keine Unterschrift, keine Initialen, die darauf hindeuteten, wer die einzelne Zeile verfasst hatte, wer es wagte, mit mir ein derart falsches Spiel zu spielen. Die Schrift würde ich unter Tausenden wiedererkennen – gehörte sie immerhin Jethro, jeder Buchstabe hatte die Form, die mir so vertraut war und die einfach nur zu Gibbs gehörte.

Unwillkürlich stiegen mir Tränen in die Augen – Tränen der Wut, dass es jemand wagte, auf meinen angeschlagenen Gefühlen herumzutrampeln. Wer hatte es nur geschafft, die Schrift meines Freundes derart gut nachzumachen? War es jemand vom NCIS? Oder war es möglich, dass es sein Mörder war? Könnte das Ganze eine Falle sein, in die ich tappen würde, wenn ich zum Park fahren würde? War vielleicht wirklich jemand hinter dem ganzen Team her? Wollte jemand uns einen nach dem anderen tot sehen?
Aber tief in meinem Inneren wusste ich, dass etwas anderes dahintersteckte, dass es einen anderen Grund geben musste, weshalb ich diese Nachricht erhalten hatte. Warum jedoch in der Schrift von Gibbs? Wieso hatte sich jemand die Mühe gemacht, diese zu kopieren? Hätte es nicht ausgereicht, mir die Nachricht so zu hinterlassen? Oder wollte der Unbekannte sichergehen, dass ich auch wirklich zu dem Park fahren würde, damit ich erfuhr, wer für diesen üblen Scherz verantwortlich war?
Und genau dieses Ziel hatte er erreicht. Das würde ich nicht so einfach auf mir beruhen lassen. In diesem Moment war es mir sogar egal, wenn es wirklich eine Falle sein sollte. Ich ballte meine Hand zur Faust, zerknüllte das Papier und hätte es am liebsten von mir geschleudert.

„Alles in Ordnung, Tony?" hörte ich Ziva hinter mir und als ich mich umdrehte, erblickte ich meine Freunde, die allesamt einen Halbkreis um mich gebildet hatten. McGee hatte einen Arm um Abby gelegt, auf deren Wangen noch immer Tränenspuren zu erkennen waren und sie hielt weiterhin das schwarze Taschentuch in ihrer Hand. Duckys Fliege hatte einen beängstigenden Winkel angenommen und war schiefer denn je. Alle sahen sie mich besorgt an und ich konnte nur hoffen, dass sie nichts von der Nachricht mitbekommen hatten.
Diese ließ ich ganz schnell in meiner Hosentasche verschwinden und holte den Schlüssel wieder hervor, den ich vorher eingesteckt hatte, bevor ich den Zettel unter dem Scheibenwischer hervorgeholt hatte. „Alles bestens", antwortete ich schließlich, aber meine Stimme strafte die Worten Lügen. Sie hatte einen unüberhörbar heiseren Ton und ich musste aufpassen, dass ich nicht auf etwas einschlug. „Das heißt, eigentlich ist gar nichts in Ordnung", korrigierte ich mich schnell und schaffte es erst nach dem dritten Anlauf, meinen Mustang endlich aufzuschließen.
Ich wusste, es wäre vielleicht besser, ihnen von der Nachricht zu erzählen, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich die Angelegenheit alleine regeln sollte. Außerdem würden sie mir vielleicht auszureden versuchen, zum East Potomac Park zu fahren.
„Soll dich jemand nach Hause begleiten?" fragte Abby und wischte sich die Tränen von ihren Wangen. Ihre Stimme hatte ihre sonstige Lebhaftigkeit verloren und obwohl sie von Tim gehalten wurde, kam sie mir irgendwie verloren vor – wie ein kleines Mädchen, das nicht wusste, wo es hin musste. „Du solltest jetzt nicht alleine sein", fügte sie hinzu und putzte sich die Nase. „Ich weiß", erwiderte ich, öffnete die Tür, drehte mich aber um, anstatt mich hinter das Lenkrad zu setzen. „Aber ich muss einfach für mich alleine sein. Ein wenig nachdenken. Trotzdem danke für das Angebot." „Falls du etwas brauchst, du kannst uns jederzeit anrufen", sagte Ducky und legte mir erneut beruhigend eine Hand auf meinen Unterarm. Seine gütigen Augen blickten mich an, so als ob er wissen würde, dass ich ihnen etwas verschwieg, aber er machte keine Anstalten, nachzubohren oder mich wie eine Zitrone auszuquetschen.
Anstatt noch etwas zu erwidern, nickte ich und setzte mich in meinen Wagen, sodass Duckys Hand von meinem Arm rutschte. „Bis morgen", verabschiedete ich mich und schloss die Tür. Ich wusste, ich könnte ihnen anbieten, den Freitag sowie das restliche Wochenende frei zu nehmen, aber ich würde wahrscheinlich nur auf taube Ohren stoßen. Genauso wie ich würden alle anderen nicht Frieden finden, ehe wir Jethros Mörder gefunden hatten. Ich war dankbar, dass im Moment jeder hinter mir stand und meine Entscheidungen nicht hinterfragte.

Ich startete den Motor und prompt strömte wunderbar warme Luft aus dem Gebläse. In den letzten Minuten hatte ich die Kälte erneut nicht bemerkt, dafür hatte mich die Nachricht viel zu unvorbereitet getroffen. Wer rechnete schon damit, einen Zettel zu finden, auf dem Worte in der Schrift meines toten Freundes standen? Das kam mir alles so unwirklich vor, so als ob nicht ich es wäre, der dies erlebte. Aber wer auch immer dieser Scherzbold war, er würde bald nichts mehr zu lachen haben – er würde noch herausfinden, was es bedeutete, sich auf meine und Jethros Kosten zu amüsieren.
Bevor ich vom Parkplatz fuhr, blickte ich noch ein letztes Mal zum Friedhof, durch dessen Ausgang jetzt immer mehr Agenten strömten, unter ihnen Direktor Shepard, die sich mit einem älteren Mann unterhielt. Die meisten würden wahrscheinlich noch in das Hotel fahren, um sich ein kostenloses Essen nicht entgehen zu lassen.
Ich legte den ersten Gang ein, suchte mir einen Radiosender, der rockige Musik spielte, in der Hoffnung, mich damit ein wenig ablenken zu können und fuhr auf die Straße – ließ meine Freunde und vor allem Gibbs hinter mir. Jetzt zählte nur noch herauszufinden, wer mich im East Potomac Park treffen wollte, wer es gewagt hatte, mir eine Nachricht in Jethros Schrift zu hinterlassen.

Es war zehn Minuten vor 22 Uhr, als ich etwa einen Block vom südlichen Eingang des Parks entfernt meinen Wegen parkte, den Motor abstellte und auf das Lenkrad starrte, das ich fest mit meinen Fingern umklammerte. Es war dunkel, die Straßenlaternen spendeten nur wenig Licht und der Mond wurde durch eine Schicht dicker Wolken verdeckt, die im Laufe des Abends aufgezogen waren. Vor etwa einer viertel Stunde hatte es leicht zu schneien begonnen, die Flocken waren dick, aber nicht genug, um als weiße Decke auf den Straßen liegen zu bleiben. Der Wind war stärker geworden und wehte lose Zeitungsseiten vor sich hin.
Um diese Uhrzeit gab es keine Menschen, die sich in dieser Gegend aufhielten, selbst Obdachlose hatten sich wegen dem eisigen Wetter eine Unterkunft gesucht, und sei es unter einer Brücke, um dort in einer Tonne irgendwelche Sachen zu verbrennen, um sich ein wenig warm zu halten. Untertags wimmelte es hier nur so von Leuten, aber jetzt war alles verlassen, die Einsamkeit drückte mir ein wenig aufs Gemüt.
Der Park erstreckte sich neben mir, die Bäume waren dunkle Schatten, dessen blätterlose Äste sich im Wind wiegten. Es war beinahe unheimlich und wenn es nach mir ging, würde ich jetzt viel lieber noch bei Jethros Boot im Keller sein als in dieser Umgebung. Aber ich musste herausfinden, wer mir diese Nachricht hinterlassen hatte und wenn ich deswegen alleine in einen Park gehen musste, wo in den nächtlichen Stunden die Chancen, überfallen zu werden gut standen, dann sollte mir das Recht sein. Ich hatte meine Waffe dabei und falls es wirklich brenzlig werden würde, konnte ich immer noch per Handy Verstärkung anfordern.

Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke nach oben, überprüfte, ob die Pistole griffbereit war und öffnete schließlich die Tür meines Wagens. Eine Schwall kalte Luft kam mir entgegen, gepaart mit Schneeflocken, die mir ins Gesicht wehten. Um mich warm zu halten, hatte ich meinen Anzug gegen ein T-Shirt, einen Kapuzensweater und eine Jeans ausgetauscht, die ich in Gibbs' Kleiderschrank aufbewahrt hatte.
Nach der Beerdigung war ich ein wenig herumgefahren, war dann aber schließlich bei Jethros Haus gelandet, wo ich mich nicht so einsam gefühlt hatte, obwohl ich vollkommen alleine gewesen war. Die meiste Zeit hatte ich unter seinem Boot gesessen und in die Luft gestarrt, hatte beobachtet, wie die Sonne langsam untergegangen war und das Licht mit sich genommen hatte. Irgendwann war der Keller in Dunkelheit getaucht gewesen, aber ich hatte mich nicht gerührt, hatte hin und her überlegt, wer der Verfasser der mysteriösen Nachricht sein könnte.
Als die Uhr auf meinem Handy schließlich kurz nach 21 Uhr gezeigt hatte, war ich aufgestanden, nach oben gegangen und hatte mir eine Tasse Kaffee gemacht, um mich vorzuwärmen und um mich munter zu halten. Die Straßen waren beinahe leer gewesen, als ich Richtung Stadt und Park gefahren war, nur ein paar Nachtschwärmer waren unterwegs gewesen. Die meisten hatten sich vor dem Wetter in ihre Häuser und Wohnungen zurückgezogen und obwohl ich jetzt seit gut vier Minuten in meinem Wagen saß, hatte sich noch immer niemand blicken lassen.

Bevor ich es mir anders überlegen konnte, stieg ich aus und sperrte den Mustang sorgfältig ab, um nicht zu riskieren, später einen leeren Parkplatz vorzufinden. Die Schneeflocken wurden ein wenig dichter, als ich die Straße überquerte und auf der anderen Seite auf den Südeingang zustrebte. Ich wusste genau, welcher Spielplatz gemeint war, immerhin gab es hier nur einen einzigen. Im Herbst letzten Jahres hatten wir in diesem Abschnitt des Parks einen Tatort untersucht, nachdem der Hund eines Joggers in den frühen Morgenstunden hinter einem Busch die Leiche eines Petty Officers gefunden hatte. Wie sich später herausgestellt hatte, hatte dieser sich selbst das Leben genommen, indem er sich eine Überdosis Drogen gespritzt hatte. Seit diesem Fall war ich nicht mehr hier gewesen, aber an den Spielplatz konnte ich mich noch hervorragend erinnern, vor allem an die Mütter, die sich aufgeregt hatten, weil dieser zu dem abgesperrten Tatort gehörte und ihn somit die Kinder nicht benutzen hatten können.

Der Eingang des Parks kam in Sicht und ich blieb kurz stehen, blickte den breiten Weg entlang, der in regelmäßigen Abständen von Laternen erhellt wurde. Bänke standen am Rand der Wiesen und wirkten wie gespenstische Schatten. Nichts rührte sich, abgesehen von den Ästen, die durch den Wind bewegt wurden - von hier aus konnte ich den Spielplatz nicht erkennen.
Mein Herz begann unwillkürlich schneller zu schlagen, als ich mich in Bewegung setzte und vom Gehsteig auf den Weg trat. Kiesel, der gestreut worden war, um zu verhindern, dass Fußgänger ausrutschten, knirschte unter meinen Schuhen und es war das einzige Geräusch weit und breit. Meine Schritte kamen mir überlaut vor und gepaart mit dem Rauschen des Blutes in meinen Ohren hatte ich beinahe die Befürchtung, etwas zu überhören. Mein Atem verließ als weiße Wolke meinen Mund und vermischte sich mit den Schneeflocken, die zu Boden rieselten und langsam liegen blieben.
Je weiter ich in den Park vordrang, desto unwohler fühlte ich mich. Auf meinen Armen bildete sich eine Gänsehaut und ich war mir sicher, dass das nicht von der Kälte herrührte. Der Spielplatz kam langsam in Sicht und wurde nur spärlich von den Lampen erhellt, die sich lediglich am Wegrand befanden. Die Geräte, auf denen die Kinder tagsüber herumtollten, waren schemenhafte Schatten, die Schaukeln bewegten sich leicht im Wind und knarzten leise.
Es war noch immer viel zu ruhig und nichts deutete darauf hin, dass sich hier jemand aufhielt. Etwas außerhalb des Lichtkegels der nächsten Lampe blieb ich stehen und blickte mich um, versuchte die Silhouette einer Gestalt auszumachen, aber das einzige was ich sah, waren der verlassene Spielplatz und die Bäume um mich herum.
Konnte es sein, dass es sich doch um einen lausigen Scherz handelte? Konnte es ein, dass sich jemand einen Spaß daraus gemacht hatte, mich von meinem warmen Zuhause wegzulocken? Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte auf die Nachricht einfach nicht reagiert. Ich drehte mich im Kreis, aber innerhalb einer Sekunde stellten sich sämtliche Härchen in meinem Nacken auf und ich wirbelte blitzschnell herum, als mich das Gefühl, beobachtet zu werden, überrollte.
Meine Hand bewegte sich zur Waffe an meiner Hüfte, als sich eine Gestalt aus den Schatten der Bäume rechts vor mir löste. Aber ich hielt mitten in der Bewegung inne, als die Person in den Lichtkreis der Laterne trat – und in diesem Moment glaubte ich, die Welt würde aus ihren Fugen geraten. Ich vergaß zu atmen, vergaß, wie man sich bewegte, die Umgebung fing an, sich um mich zu drehen. Der Boden schwankte unter meinen Füßen und ich taumelte einen Schritt zurück, weg von der Erscheinung, die nicht echt sein konnte.
Ungläubig riss ich meine Augen auf, mein Herz schlug so schnell, dass ich die Befürchtung hatte, es würde aus meiner Brust springen, meine Hände fingen unkontrolliert zu zittern an und ich stieß meinen angehaltenen Atem keuchend aus. Für einen kurzen Moment glaubte ich, verrückt zu werden, den Verstand zu verlieren, aber ich konnte noch so viel blinzeln, das Bild vor mir änderte sich nicht.
Schneeflocken segelten zu Boden, wurden vom Wind hin und her geweht, dennoch erkannte ich denjenigen, der im Lichtkegel der Lampe stand, deutlich, erkannte jeden Zentimeter seines Körpers, seines Gesichtes, erkannte die funkelnden blauen Augen, die mir ruhig entgegenblickten. Der Wind zerrte leicht an seinem schwarzen Mantel – denselben Mantel, den ich noch am Samstagabend gesehen hatte – und zerzauste seine silbergrauen Haare.
Ich schüttelte meinen Kopf, versuchte das Bild, das mein Gehirn offenbar produziert hatte, zu vertreiben, aber es änderte sich nichts, alles blieb gleich und ich war nur mehr fähig, auf den Mann vor mir zu starren, auf das vertraute Gesicht, auf den vertrauten Körper. Und schließlich kam ein einzelnes Wort über meine Lippen, mit einer Stimme, die so heiser war, so als ob ich sie seit Jahren nicht mehr benutzt hätte. „Jethro?"

Fortsetzung folgt...
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