- Text Size +
Jethro stand noch immer an derselben Stelle und starrte auf den Fleck, wo Tony vor wenigen Sekunden verschwunden war und nichts weiter als Leere hinterlassen hatte – Leere in seinem Herzen. Hätte ihm jemand in diesem Moment ein Messer in die Brust gerammt, er hätte es wahrscheinlich nicht einmal gemerkt, so groß war der Schmerz, der in ihm tobte und ihm buchstäblich den Atem nahm. Seit Jahren hatte er nicht mehr das Bedürfnis verspürt zu weinen, aber in diesem Augenblick wollte er sich einfach nur auf den Boden kauern, sich zu einem Ball zusammenrollen und so lange heulen, bis er keine Tränen mehr übrig hatte.
Für einen kurzen Moment hatte Gibbs wirklich geglaubt, es könnte alles gut werden. Als ihn Tony vorhin so fest umarmt hatte, sein Freund ihm wieder so nahe gewesen war, er seinen Duft wie die Luft zum Atmen in sich aufgenommen hatte, hatte er sich unbeschreiblich glücklich gefühlt. Er hatte vergessen, warum er in diesem Park war, warum er Anthony die Nachricht auf seinem Wagen hinterlassen hatte, er hatte den Auftrag verdrängt. Es hatten nur mehr sie beide gezählt und die Wiedervereinigung. Es war unglaublich schön gewesen, Tony wieder in seinen Armen halten zu dürfen, seinen Körper spüren und mit seinen Fingern durch die weichen Haare fahren zu können. Er hatte all das so schrecklich vermisst, aber noch mehr hatte er Anthony selbst vermisst, sein Lächeln, das Funkeln in seinen tiefgrünen Augen, seine gesamte Art. Es hatte ihn mit Freude erfüllt, dass die Trauer aus dem Blick seines Freundes verschwunden war, er wieder lächeln hatte können.
Und als Jethros Hals mit kleinen Küssen überhäuft worden war, hatte er alles ausgeblendet, den harten Boden, auf dem sie gekniet hatten und den kalten Wind, der weiterhin durch den Park pfiff. Es war so herrlich gewesen, Tonys Lippen wieder zu spüren und seine Stimme zu hören. Anfangs hatte er etwas Angst gehabt, dass dieser alles für einen Scherz halten würde, dass er glaubte, Gibbs wäre nur eine Erscheinung oder ein Traum, aber das hatte sich rasend schnell geändert – und jetzt? Jetzt wünschte er sich, Anthony würde wirklich nur träumen.
Es hatte ihn mitten ins Herz getroffen, als sich der Ausdruck unbändiger Freude in rasende Wut umgewandelt hatte, als er die Wahrheit ausgesprochen hatte, als er gestanden hatte, dass es seine Entscheidung gewesen war, undercover zu gehen. Aber was hätte er auch anders machen sollen? Es Tony verschweigen? Nein, das wäre die schlechteste Alternative gewesen. Er hatte ihn nicht anlügen können, einfach aus dem Wissen heraus, dass es nachher nur noch schlimmer geworden wäre. Es war richtig gewesen, gleich reinen Wein einzuschenken, aber um welchen Preis?

Gibbs blickte auf seine zitternden Hände hinunter und hätte sie am liebsten gegen einen Baum geschlagen, um sich selbst für seine Dummheit zu bestrafen. Wie hatte er nur für eine Sekunde glauben können, Anthony würde ihm vielleicht einfach vergeben, dass er nur froh war, Jethro wiederzuhaben? Selbst heute hatte er noch die Hoffnung gehegt, dass alles gut werden würde, dass er mit Tony nach Hause fahren würde, um ihm die ganze Nacht zu zeigen, wie sehr er ihn liebte und wie sehr ihm alles leid tat. Aber nichts dergleichen war geschehen.
Er hatte ja nicht einmal die Möglichkeit erhalten, seine Beweggründe zu erklären, zu erklären, warum er den Auftrag angenommen hatte, nicht einmal von dem Versprechen hatte er erzählen können. Vielleicht wäre dann das ganze anders verlaufen, vielleicht wäre Tony nicht buchstäblich weggelaufen. Aber Gibbs konnte es seinem Freund nicht verdenken, dass er zurückgewichen war, dass er nichts weiter hatte hören wollen. Wahrscheinlich hätte er selbst nicht anders reagiert, hätte seiner ganzen Wut freien Lauf gelassen. Aber was beinahe noch schlimmer gewesen war als diese grenzenlose Wut, war der Ausdruck der Enttäuschung in den grünen Augen gewesen – gepaart mit Anthonys Worten, dass das zweite ‚b' in Gibbs wirklich für Bastard stand.
Er war im Laufe der letzten Jahre von vielen Leuten als solcher beschimpft worden – manche hatten ihn sogar mit noch schlimmeren Namen bedacht – aber dass Tony glaubte, er wäre ein Bastard, hatte ihm beinahe das Herz gebrochen. Erst da war ihm richtig bewusst geworden, was er wirklich kaputt gemacht hatte, indem er dem Versprechen den Vorrang gegeben hatte. Sein Freund hätte ihn schlagen, hätte ihm ein Messer in seinen Körper jagen können – nichts hätte so sehr weh getan wie das Wissen, dass Anthony ihn für einen Bastard hielt.
Mittlerweile wünschte er sich so sehr, dass er alles rückgängig machen konnte, dass es noch einmal Samstag war und er Jen sagte, dass er nicht undercover ging, dass er das Versprechen nicht erfüllte. Wahrscheinlich hätte er damit besser umgehen können als zu wissen, dass er schuld war, dass Tony geweint hatte, dass Gibbs es war, der ihm solche Schmerzen zuführte, dass er es war, der im Prinzip ihre gesamte Beziehung aufs Spiel setzte.

Auf einmal überkam ihn unbeschreibliche Angst und seine Beine wären beinahe eingeknickt. Was war, wenn ihre Beziehung bereits zu Ende war? Was war, wenn Anthony mit seinem Verschwinden einen Schlussstrich gezogen hatte? War es möglich, dass Jethro nichts mehr gerade biegen konnte, auch wenn er alles erklärte?
Und der Beweis dafür lag wahrscheinlich nur ein paar Meter von ihm entfernt auf dem Boden und glitzerte vor sich hin. Vorhin hatte er für einen kurzen Augenblick geglaubt, Tony hätte es sich anders überlegt, als er stehen geblieben war, aber dann hatte er das leise Pling gehört, mit dem der Ring auf dem Asphalt aufgekommen war – der Ring, den er zu seinem Geburtstag geschenkt bekommen hatte und der ein Zeichen ihrer Liebe war.
Der Gedanke daran, dass vielleicht alles bereits vorbei war, alles, was sie sich gemeinsam aufgebaut hatten, unter dem Berg seiner eigenen Dummheit begraben, ließ seine Augen brennen, ließ den Wunsch auf irgendetwas einzuschlagen noch mehr wachsen. Was sollte er nur machen, wenn die Beziehung wirklich vorbei war? Während der letzten Tage hatten ihn die Gedanken an Tony immer aufrecht gehalten, hatten geholfen, alles durchzustehen, aber er wusste nicht, wie es weitergehen sollte, würde er seinen Freund verlieren.
Bei der Vorstellung, dass er nie wieder Anthony in seinen Armen halten würde, ihn nie wieder küssen und seinen Körper liebkosen konnte, hätte er am liebsten einen lauten Schrei ausgestoßen, hätte sich den Schmerz von der Seele geschrien, einen Schmerz, für den er selbst verantwortlich war.

Wie in Trance setzte sich Jethro in Bewegung und ging auf den Lichtkegel zu, in dem der Ring lag und auf seinen Besitzer wartete. Ohne dass er es bemerkte, lösten sich aus seinen Augen Tränen, als er den kleinen Gegenstand erreicht hatte, sich langsam bückte und ihn vorsichtig aufhob, so als ob schon die geringste Erschütterung zu einer Beschädigung führen würde. Das Metall war noch warm, zeugte davon, dass ihn Tony bis vor kurzem getragen hatte.
Liebevoll strich Gibbs mit einem Finger über den Rand des Ringes, versuchte sich nicht in den Erinnerungen zu verlieren, als er ihn erhalten hatte. Gott, dieser Abend war so perfekt und es war seit langem der schönste Geburtstag gewesen, den er erlebt hatte. Die vielen Kerzen, die Seidenbettwäsche und das Geschenk, das ihm alles bedeutete.
Langsam drehte Jethro den Ring, bis die Gravur sichtbar wurde – und sein Herz zog sich noch schmerzhafter zusammen, ließ seine Augen noch mehr Tränen produzieren. In Liebe, Tony! Immer wieder las er die Buchstaben, nahm ihre Bedeutung in sich auf und hoffte so sehr, dass doch noch nicht alles vorbei war, dass er eine zweite Chance erhielt. Er würde alles machen, um Anthony wieder zurückzubekommen, um ihn wieder in den Armen halten zu können. Er würde ihm jeden Tag mindestens ein halbes Dutzend Mal sagen, dass er ihn liebte und es ihm jede Nacht beweisen. Er würde nie wieder etwas machen, was seinen Freund verletzten würde.
„Es tut mir leid, Tony", sagte er mit brüchiger Stimme, hob den Ring an seine Lippen und drückte einen sanften Kuss darauf, bevor er ihn sich auf den Ringfinger steckte, wo er die letzten drei Monate gewesen war. Es fühlte sich einfach wunderbar und vertraut an, das Kleinod wieder bei sich zu haben, es wieder tragen zu können.
„Verzeih mir bitte, verzeih mir, dass ich so ein Idiot bin." Und ehe Gibbs wusste, was passierte, kniete er auf dem Boden, schlang seine Arme über seinen Oberkörper und ließ es zu, dass Träne um Träne aus seinen Augen tropfte. Es war das erste Mal seit Shannons und Kellys Tod, dass er wieder weinte, aber er konnte nicht anders. Er musste irgendein Ventil für den Schmerz finden, der in ihm tobte, ein Schmerz, der ihn dafür bestrafte, dass er verantwortlich war, dass Anthony so litt. Jethro kniete auf dem harten Boden in einem großen, verlassenen Park und weinte um die Liebe seines Lebens, die er durch seine eigene Dummheit vielleicht für immer verloren hatte.

Fortsetzung folgt...
You must login (register) to review.