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Author's Chapter Notes:
Gibbs bekommt die Nachricht vom Tode Tonys.
Kapitel 1: Dezembermorgen


Der Anruf kommt mitten in der Nacht. Ein Klingeln, nicht zu aufdringlich, aber auch nicht zu leise. Nicht zu überhören. Das Telefon liegt gleich auf dem Nachtkästchen, ganz nah.

Er hat geschlafen, das erste Mal seit Tagen. Er weiß gar nicht mehr, wie viele es schon sind und trotzdem hat er befürchtet, dass er keine ruhige Nacht haben und geweckt werden wird. Entweder von seinen Träumen oder von seinen Sorgen oder von diesem Anruf. Es ist schon zu lange her. Einmal musste er kommen, dieser Anruf.

Ein kurzer Schauder erfasst seinen Körper bevor er abnimmt. So sehr hofft er, dass er es ist. Falls ein anderer spricht, würde er Gewissheit haben. Die furchtbare Gewissheit, dass etwas Schreckliches passiert ist.

Der Moment, den er braucht, um die Hand auszustrecken, dehnt sich. Er wundert sich ein wenig, wie unendlich lang so ein kurzer Augenblick erscheinen kann. Der Augenblick zwischen träumen und schlafen, und aufwachen und wach sein. Die Geschehnisse der vergangenen Tage tauchen unwillkürlich in seinem Kopf auf – nur kurz, aber dafür sehr klar. Sie schmerzen.
Genervt ist er, als sich Tony schon wieder verspätet; verärgert, als er nicht anruft und sagt, wo er sich denn rumtreibt; und dann ein wenig – so sieht es zumindest für die anderen aus – besorgt, als er nicht zurückruft. Dann schließlich hat er Angst und macht sich Sorgen und spürt verdammt noch mal ein schreckliches Entsetzen, als er fünf lange Tage nicht mehr zurückkommt. Ohne auch nur irgendeine Nachricht.

Sie alle haben nach ihm gesucht, sind jeder nur erdenklichen Spur nachgegangen, aber er war einfach weg. Niemand, der ihn gesehen hat, niemand, der etwas von ihm wusste. In all den Tagen.

Jetzt weiß er es. Gewissheit. Furchtbare. Er ist nicht mehr entsetzt.

Nein.

Er ist es doch. In diesem Moment ist er es. Es ist der Moment, in dem letztlich alles klar wird. Dessen ist er sich sicher. Warum sollte ihn irgendwer in diesen Stunden anrufen, kurz vorm Morgengrauen, wenn es normalerweise still ist in der Welt?
Nein, das stimmt nicht. Er hat schon unzählige Anrufe zu dieser nachtschlafenden Zeit bekommen. Und trotzdem weiß er es.

Er beobachtet seine Hand, wie sie kurz davor ist, den Anruf entgegenzunehmen. Zeitlupe. Tony würde sicher einen Film kennen, in dem sie bedeutsam ist. Und davon erzählen. Lang und ausführlich. Er würde die Szene beschreiben… eine Szene voller Anspannung. Ganz genauso wie er sich im Moment fühlt. Eine Art von wütender, nervenzerreißender Anspannung, die ihn im Bruchteil einer Sekunde wachgerüttelt hat.

Er atmet tief ein. Seine Hand verharrt einen Augenblick, dann erst bewegen sich Muskeln und Sehnen und heben das Telefon an sein Ohr.

„Gibbs," sagt er und es hört sich atemlos und rau an, als ob er gerade erst aufgewacht wäre. Was er eigentlich auch ist, aber das hat er fast schon wieder vergessen. Die Anspannung.

„Jefferson," sagt eine gestaltlose Stimme am anderen Ende. „Polizei Washington."
Dann schweigt sie für einen Moment, aber die Gewissheit trifft ihn sofort wie eine Faust in den Magen. In all den Jahren hat er viele davon abbekommen. Schläge in den Bauch, Treffer auf die Rippen. Aber nichts hat ihm jemals so den Atem geraubt wie dieser Hieb jetzt. Er tut weh. Schrecklich und furchtbar und verdammt schlimm. Er holt noch einmal tief Luft und muss fast würgen. Er tut es nicht. Er ist an solche Schläge gewöhnt.

Der Versuch, sich selbst zu überzeugen. Er schüttelt müde den Kopf.

„Ja," antwortet er dann und dieses einzelne Wort schwebt in der Stille, in der Dunkelheit, in der Nacht wie ein einsames Blatt, das in den Ästen von den Winterstürmen übrig gelassen wird.

„Kennen Sie einen gewissen Anthony Michael DiNozzo?", fragt die Stimme und dieses Mal ist er zwar vorbereitet, aber es tut immer noch verdammt weh.

„Ja," sagt er und das scheint das einzige Wort zu sein, das er an dem Kloß vorüberzwingen kann, der sich plötzlich in seinem Hals gebildet hat, der seine Kehle versperrt und ihn am Sprechen und Atmen hindert.

„Wir haben ihn gefunden," sagt der Beamte dann und bevor er ansetzen kann, das auszuführen, verspürt Gibbs einen plötzlichen Funken Hoffnung in seinem Körper – wie eine Flamme, die eine Fackel entzündet.

Er ist verletzt, denkt er, nur verletzt. Vielleicht schwer. Er kann nicht selber mit mir reden. Vielleicht ist er im Krankenhaus, wird gerade operiert, ist intubiert, was auch immer. Bewusstlos, oder liegt sogar im Koma. Aber er lebt. Er hat ihnen seinen Namen gesagt. Meine Nummer gegeben. Sie rufen mich an, weil sie seine Blutgruppe brauchen. Oder wissen wollen, ob er allergisch gegen irgendetwas ist. Kein Problem, das kann ich ihnen alles sagen. Ich muss ihn nur danach sehen können. Dieser gute Mann hier sagt mir den Namen des Krankenhauses und ich werd dort hinfahren. Mit quietschenden Reifen und die anderen Fahrer werfen mir wahrscheinlich Schimpfworte hinter ihren Scheiben an den Kopf, weil sie wegen mir in die Eisen steigen müssen. Aber kein Problem. Ich werd ihn sehen und er wird okay sein. Dann geb ich ihm einen Klaps auf den Hinterkopf und fordere, dass er mir sagt, warum er so lang verschwunden war und warum er keinen Ton von sich gegeben hat. Und wenn er das erklärt hat und mich mit seinen Hundeaugen anschaut, dann umarm ich ihn und sag ihm, dass er das niemals wieder tun wird, oder ich werd ihn erschießen. Geradewegs ins Herz ohne…

„Mr. Gibbs…" Die Stimme unterbricht seine Gedanken und er wird zurück in die Realität gerissen.

„Ja," sagt er wieder. Er fühlt sich langsam wie ein mieser Papagei.

„Es tut mir leid," setzt der Mann an und Gibbs schließt resigniert seine Augen. Ein paar Worte zerstören seine ganze Hoffnung. Ganz einfach.

„Mr. DiNozzos Leiche wurde vor etwas über einer Stunde in der Nähe der National Mall gefunden. Er…"
Hier stoppt der Beamte, denn er weiß nicht, was er weiter sagen soll. Gewöhnlich hat er es mit trauernden Familienmitgliedern zu tun, mit Eltern und Ehefrauen. Bei diesen zeigt er Mitgefühl. Aber jetzt? Da ist dieser Mann, dessen Verbindung zu der Leiche, die sie gefunden haben, nicht unbedingt offensichtlich ist. Er wird nur als „Im Notfall zu kontaktieren" geführt. Ein NCIS Agent. Einer, der den Tod gewohnt ist. Soll er direkt sein? Nüchtern? Normalerweise hätte er nie ‚Leiche' gesagt. Umschreibungen. Wahrheit, die verdeckt wird. Waren seine Worte falsch? Vielleicht ist dieser Mann mehr als nur ein Teamkollege, Vorgesetzter, was auch immer. Zu spät. Schon geschehen. ‚Leiche'…

Ein paar leise Worte durchbrechen die Gedanken des Beamten, obwohl sie nicht wirklich an ihn gerichtet sind.

„Also ist er tot."

Eine ruhige Feststellung.

Er hat es gewusst. Und doch hat er gehofft, dass der Anruf nicht kommen würde, dass er ihm etwas anderes sagen würde. Einen kurzen Augenblick lang hasst er diese Welt, die ihm schon so viel in seinem Leben geraubt hat. Seine Familie. Und jetzt auch Tony.
Wieder atmet er tief ein, hält kurz die Luft an, und atmet dann langsam aus.

„Wie ist er gestorben?"
Seine Stimme klingt jetzt wieder stärker, aber fast unnatürlich ruhig. Er braucht diese Verbindung zur Realität um mit seinem momentanen Hass fertigzuwerden. Einfache, harte Fakten. Aber er will sie nicht. Er wird ihn ohnehin später sehen. Aber nicht Witze machend im Hauptquartier; nicht im Krankenhaus, am Leben. Er wird ihn auf einem von Duckys Tischen sehen, nackt und schutzlos und so gänzlich still. Tot.
Er spürt einen plötzlichen Drang, auf irgendetwas einzuschlagen, aber bevor er dem nachgeben kann, antwortet ihm der Mann am anderen Ende der Leitung. Gibbs seufzt.

„Ein Schuss ins Herz."

Einfache, harte Fakten, denkt Gibbs zynisch. Genau das, was ich wollte.

Fast, als ob der Beamte ihn denken gehört hätte, fügt er noch etwas hinzu. „Er war sofort tot. Er musste nicht leiden."

Das, was sie immer sagen, schießt durch seinen Kopf, aber er beschließt sogleich, darüber nicht länger nachzudenken. Ducky wird ihm ohnehin die Wahrheit mitteilen.

„Danke für den Anruf," sagt er und beendet das Gespräch abrupt. Naja, nicht so abrupt wie er es normalerweise mit seinen eigenen Leuten macht. Tony hat sich einmal darüber beschwert, erinnert er sich plötzlich, als er das Telefon vorsichtig auf das Nachtkästchen legt. Damals hat er das einfach so stehen lassen. Niemals entschuldigen oder rechtfertigen.

Jetzt wünscht er sich, er hätte es getan. Eine kleine Geste nur, die seine Autorität unangetastet gelassen hätte. Das zweite ‚b'. Manchmal wünscht er sich einen anderen Namen. Mit nur einem ‚b' oder vielleicht sogar ganz ohne. Seinen Schutz aufgeben. Die beiden ‚bs'… Diese Rüstung bewahrt ihn oft vor Verletzungen, ganz wie die alten Ritter im fernen Europa. Keinen Treffer ins Herz, nur eine Delle im Metall. Er weiß schon jetzt, dass er sie dann wieder anlegen muss, in ein paar Momenten. Spätestens, wenn er den anderen mitteilen muss, was passiert ist. Kate, Abby, McGee, Ducky…

Gibbs schließt kurz die Augen. Sie wissen es noch nicht. Sie liegen zu Hause in ihren Betten – denn da hat er sie hingeschickt, heute, nach all den durchwachten Nächten – und träumen. Hoffentlich. Diese paar Augenblicke der Ruhe, in denen sie noch nicht wissen, dass sich die Welt ganz furchtbar verändert hat. Heute, in dieser Nacht, vor wenigen Minuten. Alle haben sie es vermutet, alle haben diese Vermutung besser oder schlechter versteckt.

Ducky, der ihn gestern auf seine direkte Art angesprochen hat, nachdem die tage- und nächtelange Suche ihnen langsam die Hoffnung geraubt hatte. Jethro, was wirst du tun, wenn sie Tony finden? Und er hatte so getan, als ob er ihn nicht verstanden hätte. Was soll ich schon machen?, hatte er gefragt. Ich werd ihm gehörig die Leviten lesen und ihn zwei Wochen suspendieren, wenn er das noch einmal mit mir versucht. Ducky hat ihn nur traurig angesehen, ihm die Hand auf die Schulter gelegt. Leugne es nicht, Jethro, du weißt so gut wie ich, dass Tony vielleicht nie mehr wieder kommt. Sein Blick hat Bände gesprochen. Ducky wusste es. Mein Freund wusste, dass ich es wusste. Was wird er sagen, wenn ich ihm sagen muss, dass er recht hatte? Was wird er tun, wenn er realisiert, dass er Tony obduzieren soll? Kann man das einem Freund antun? Nein. Mit dem Messer die Haut aufschneiden, den Brustkorb öffnen, das Herz….Nein.

Mit bewusster Anstrengung unterbricht Gibbs hier seine Gedanken. Das will er sich jetzt gar nicht vorstellen, denn später muss er ihn ohnehin sehen. Den toten Körper auf dem Autopsietisch, die Tatortfotos. Und dann wird er auf die Suche nach seinem Mörder gehen und wenn er den Rest seines Lebens damit beschäftigt sein wird. Er hat schon einmal aus Rache getötet. Damals, vor so vielen Jahren. Nicht einmal Ducky weiß davon. Frieden hat er ihm nicht gebracht, dieser Schuss aus der Ferne. Nicht Frieden, aber Befriedigung. Er hätte nie gedacht, dass er jemals wieder ein ähnliches Gefühl verspüren wird. Nicht ganz das Gleiche, aber nah genug, um wieder diese bebende Ohnmacht zu fühlen, die ihn damals die Tage und Nächte überstehen ließ.

Ich werde Hilfe brauchen, denkt er. Hoffentlich hat er Spuren hinterlassen, viele kleine Spuren, die ich benutzen werde, um ihn zu jagen. Fingerabdrücke für Abby, Daten, mit denen McGee irgendwelche Dinge an seinem Computer anstellen kann und dann plötzlich weiß, wo der Schweinehund ist...

McGee. Was wird er sagen, wenn ich ihn jetzt dann anrufen muss? Nichts wahrscheinlich. So total geschockt, dass er sich ganz in sich zurückziehen wird. Wird vermutlich professionell wirken wollen und dabei kaum klar denken können. Tony war sein bester Freund. Auch wenn er das nie zugegeben hätte, aber er bewundert ihn. Bewundert Tonys Witz und sein Selbstbewusstsein. Naja, zumindest, solange er keine schlüpfrigen Geschichten erzählt. Warum denke ich in der Gegenwart? Tony ist tot. Er wird nie wieder abstruse Stories auspacken, warum er zu spät kommt, was er am Wochenende geplant hatte, wie viele Mädchen er wann und wo und wie im Bett hatte. Ich habe diese Stories nie gemocht. Nur Unsinn. Manchmal hab ich mich gefragt, woher der Junge so eine blühende Phantasie hatte. Und dabei waren die meisten vermutlich wahr. Er hat noch praktisch jede Frau um den kleinen Finger gewickelt, mit seinen Hundeblick und seinem Lächeln.

Nur Kate nicht. Die hat ihm immer widerstanden. Die beiden hätten ein liebes Geschwisterpaar abgeben. Gestritten, gekabbelt und fest zusammengeschweißt, wann immer nötig.

So oft wie er sie auf die Palme gebracht hat. Eigentlich fast jeden Tag. Und sie hat es ihm immer heimgezahlt. Wahrscheinlich haben sie sich geliebt – auf jene seltsame Art, wie es nur zwischen Geschwistern möglich ist. Wenn du weißt, dass dir jemand so verdammt und unglaublich ähnlich ist, dass du gar nicht anders kannst, als dich immer mit ihm zu messen. Solange, bis du begreifst, dass der andere kein Rivale ist und du dann ein so enges Verhältnis mit ihm hast, dass du dir gar nicht mehr vorstellen kannst, warum du jemals mit dem anderen gestritten hast.

So weit ist es mit den beiden nie gekommen. Ich frage mich, was sie gemacht hätten, wenn sie irgendwann einmal diese Rivalität überwunden hätten. Friede, Freude, Eierkuchen. Nein, die beiden haben sich auch so geliebt. Das aber ziemlich gut versteckt. Wie war das, als Tony damals fast gestorben wäre? Als er die Pest hatte und verzweifelt um jeden Atemzug gerungen hat? Ich habe Kate kaum wiedererkannt. Geweint hat sie in Duckys Armen und hat ihre eigene Gesundheit aufs Spiel gesetzt, nur damit sie bei ihm bleiben konnte. Wie soll sie das nur überstehen? Sie tut immer so stark, aber sie ist es gar nicht. Ihre Angst, als Tony vermisst wurde – damals, zuerst mit Atlas, später mit Jeffrey.
Jetzt, wo er seit fünf Tagen nicht mehr da war und wir keine Ahnung hatten, was passiert ist. Ich habe es in ihrem Gesicht gesehen, dass sie das Allerschlimmste vermutet hat. Sie bekommt dann immer diesen einen Blick, den ich sonst noch bei niemand anderem gesehen habe. Verschlossen, in sich gekehrt. Wie eine Wand, die man nicht durchbrechen kann, weil schon der kleinste Sprung einen Einsturz verursachen würde. Genauso hat sie damals gewirkt. Damals, als wir in den Abwasserkanälen rumgeklettert sind und nach jeder Ecke Tony erwartet haben. Tot oder verletzt. Damals ist ihm nichts passiert. Jetzt schon.

Er liegt tot in den Straßen. Auch Abby wird die Fotos von ihm sehen müssen. Ich kann sie ihr nicht vorenthalten, wenn sie darauf besteht. Und das wird sie. Sie wird seinen Mörder fangen wollen, genau wie ich. Verzweifelt und voller Wut. Die Kleine wird zusammenbrechen, wenn sie erfährt, was geschehen ist. Die beiden haben sich so gut verstanden. Was mir zwar fast unerklärlich ist, aber da existierte wohl irgendeine seltsame Verbindung zwischen den beiden. Er hat ihr viel erzählt, was er sonst niemandem gesagt hat. Abby hat sich nie verplappert, obwohl sie sonst gerne redet. Seine Geheimnisse hat sie immer für sich behalten. Sie ist jetzt die einzige, die sie noch kennt. Tony nimmt sie mit ins Grab.

Viel Leid und viel Schmerz.

Nur das hat Abby jemals über ihn verloren, als ich sie gefragt habe. Sauer, weil er sich nicht an mich wendet, wenn er Probleme hat. Er soll mit mir reden! Ich bin sein Vorgesetzter, aber auch sein Freund. Warum kommt er nicht zu mir?
Schon wieder diese verdammte Gegenwart. Tony ist tot. Kapier das doch endlich, Jethro! Leugnen bringt nichts und schon gar nicht bringt es ihn wieder zurück. Er ist tot, tot, tot!

Ein Krachen reißt Gibbs aus seinen Gedanken. Geistesabwesend und doch voller Wut und Trauer und Entsetzen hat er mit der Faust auf den Spiegel in seinem Badezimmer eingeschlagen.
Mehrere Male, wie es scheint.
Das letzte Mal war eins zu viel. Scherben liegen am Boden, im Waschbecken. Ein paar stecken auch in seiner Hand. Nicht viele. Es tut nicht mal weh. Es gibt Schlimmeres. Anrufe in der Nacht zum Beispiel.

Warum ist er überhaupt im Bad? Er muss völlig in Gedanken herrübergestolpert sein. Was macht er hier? Sollte er nicht am Telefon sein? Oder im Auto? Auf dem Weg zu Tony, der wahrscheinlich gerade in einen Leichensack gesteckt wird oder schon in ein Kühlfach. Oder warten die Beamten auf den NCIS? Er sollte ihn wirklich nicht alleine lassen. Es ist einer der letzten Wege, den er jemals antreten wird. Der einsamste. Nach all den Wegen, die er in all den Jahren schon gegangen ist. In der Militärakademie, in Peoria, in Pennsylvania, in Baltimore. In Washington. Viele Schritte. Manche leicht, manche schwer.

Tony hat sie oft glauben lassen, dass die meisten einfach waren. Ein reicher Playboy, der nebenbei ein bisschen Polizist spielt. Ein Sunnyboy, der gerne liebt und von allen bereitwillig geliebt wird.

Er hat nicht lang gebraucht, um hinter diese Maske zu blicken. Eigentlich hat niemand lang gebraucht. Abbys Worte haben seine Meinung nur bestätigt. Tony hat es nicht einfach gehabt. Seine Schritte waren oft schwerfällig und mühsam. Kein Playboy und schon gar kein Sunnyboy. Geliebt hat ihn vielleicht niemals jemand wirklich. Sicherlich nicht die Mädchen, die jede Woche anders hießen und andere Telefonnummern hatten, aber dennoch alle gleich waren. Jung und schön. Meist nicht besonders helle, wenn er ehrlich ist. Tony hat ihm trotz seiner Geschichten oft leid getan. Bestimmt hat er keine von ihnen geliebt. Naja, vielleicht Paula. Ein wenig. Die einzige, mit der er nie eine Beziehung hatte. Er hatte nie jemanden wie Shannon, die einfach nur die Richtige gewesen war. Die ihn ergänzt hat und ganz gemacht und heil und vollständig. Die das fehlende Teil in einem Puzzle war, das für Tony niemals auch nur zur Hälfte begonnen war, weil ihm seine Eltern schon die wichtigsten Stücke geraubt haben. Die Ecken, die dem Ganzen Halt geben. Den Rand, der die verstreuten Teile zusammenhält...

Gibbs starrt in den kaputten Spiegel. Er sieht sein Gesicht, mit Rissen durchzogen wie in einem Kaleidoskop. Nur die schillernden Farben fehlen.

Er fühlt sich, als ob sie nie wieder zurückkehren werden, denn die Worte des Beamten hallen andauernd in seinem Kopf wieder.

„Mr. DiNozzos Leiche. Ein Schuss ins Herz. Sofort tot. Nicht leiden müssen."

In diesem Moment fühlt er sich schrecklich müde und alt. Langsam sieht er sich im Bad um. Sieht die Scherben, das Blut.

Kaputt. Zerstört. Zerbrochen.

Mit einer kurzen, fast beiläufigen Geste zieht er sich die Glassplitter aus der Hand. Wie gesagt, Schmerzen ist er gewöhnt. Er wischt das Blut vom Keramik des Waschbecken, dreht den Hahn auf, lässt eiskaltes Wasser über die kleinen Wunden laufen. Sie brennen, lenken ein wenig ab vom Schmerz, der nicht in seiner Hand, sondern in seiner Brust sitzt.

Anziehen muss er sich noch, erinnert er sich plötzlich. Deswegen ist er auch ins Bad gegangen. Anziehen, ein bisschen das Gesicht abwaschen. Kaffee aufsetzen. Nein, dafür ist keine Zeit. Er wird unterwegs bei Starbucks halten müssen. Einen doppelten Espresso. Wenn er Glück hat, kann er das Mädchen hinter der Theke zu einem dreifachen überreden. Wahrlich, er bräuchte ihn. Er muss später noch vier Anrufe tätigen. Vier schlimme Anrufe.

Nun gut, also anziehen. Hose, Shirt, Jacket. Okay, kurzer Check im Spiegel. Im Schlafzimmer, wohl eher. Rübergehen.

Okay, alles normal. Niemand würde vermuten, dass er gerade die Nachricht vom Tode eines Freundes bekommen hat. Vom Mord an einem Freund. Er sieht aus wie jeden Tag. Naja, vielleicht sind seine Augen ein klein wenig rot. Die Müdigkeit und die späte – nein, frühe – Stunde. Um die Zeit hat selbst Tony selten gearbeitet. Er war zwar eine Nachteule, aber meistens war für ihn spätestens um zwei Schluss. Oder drei.
Die Überwachungskameras werden ihn jetzt nie mehr aufnehmen. Sein Tisch bleibt leer. Auf immer.

Gibbs begegnet seinem eigenem Blick im Spiegel und schüttelt leicht den Kopf. Er wird jetzt ins Büro fahren und von dort die anderen anrufen. Vorher braucht er dringend noch ein bisschen Zeit für sich, um mit dem Schock fertigzuwerden und seine Maske aufzusetzen. Dann, wenn sie alle dieselbe schreckliche Gewissheit haben, setzt er sich an seinen Schreibtisch und wartet, damit sie gemeinsam zu Tony fahren können. Zum Tatort.

Fotos, Fingerabdrücke, Skizzen. Beweise. Er sieht schon jetzt dem Tag entgegen, wenn er endlich Tonys Mörder gegenübersteht. Vorzugsweise mit dem Finger am Abzug oder der Hand an seiner Kehle. Der soll büßen. Mit mindestens lebenslänglich. Er wird nicht ungeschoren davonkommen, das schwört er sich, so wahr er hier steht.

Wie wenig weiß Gibbs in diesem Moment von der Zukunft.

Ein letztes Umschauen. Er greift nach seinem Telefon und seiner Waffe. So eine hat Tonys Leben beendet. Im Bruchteil einer Sekunde. Trotzdem ist sein Griff fest. Erfahrung und der Gedanke an Rache.

Die Treppe hinunter, durch die Küche, den Gang entlang. Jacke vom Haken, Schuhe an.

Beim Hinausgehen, kurz bevor die Tür ins Schloss fällt, streift sein Blick den Kalender, der im Flur an der Wand hängt.

Der 12. Dezember.

Ein Datum, das er ab jetzt immer in seinem Herzen aufbewahren wird. Davon gibt es schon einige. Glückliche und unglückliche.
Der Tag, an dem er Shannon kennengelernt hat. 15. Mai.
Der Tag, an dem er sie geheiratet hat. 7. Mai.
Der Tag, an dem Kelly geboren ist. 18. Oktober.
Der Tag, an dem die beiden starben. 3. April.
Der Tag, an dem er ihren Mörder getötet hat. 25. Juli.
Der Tag, an dem sie Tony gefunden haben. Der Tag, an dem sie ihn auf ewig verloren haben. Heute. 12. Dezember.

„Dann ist er also tot." Zehn Minuten, seit er diesen Satz zum ersten Mal denken musste. So kurze Zeit.

„Ein Schuss ins Herz."

Mit einem leisen Klicken schließt sich die Türe hinter ihm und er tritt hinaus in den kalten Dezembermorgen. Er schlägt den Kragen seiner Jacke hoch. Ihn friert.

„Er hat nicht leiden müssen."

Nein, sicher nicht. Der Tod tut niemals weh.

Gibbs öffnet die Autotür und setzt sich hinters Steuer. Ein paar Minuten bis ins Büro. Ein langer Weg, der sich vor ihm erstreckt.

Tony ist tot.



TBC!
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