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Author's Chapter Notes:
Einige Stunden später - Ducky muss sich an die Autopsie machen
Kapitel 2: Kein Funken Leben


Es sind jetzt einige Stunden vergangen, seit Jethros Anruf ihn aus dem Schlaf gerissen hat. Es ist bereits kurz vor Mittag und obwohl es immer noch fast so kalt ist wie in der Frühe, scheint draußen jetzt eine helle Sonne, die Washington in ein klares Licht taucht. Alle Kanten und Ecken und Linien wirken so scharf wie es nur im Winter sein kann, wenn einmal kein Nebel über der Hauptstadt liegt.

Heute gab es keinen Nebel, erinnert sich Ducky. Es war klar und hell und kalt, als er mit Jimmy aufgebrochen ist und sie sich auf den Weg gemacht haben, in die einsame Gasse in der Nähe der National Mall zu fahren. Die anderen vier waren im Auto direkt vor ihnen gesessen.

Vereint in ihrer Trauer.

Er nimmt den grünen Kittel von seiner Stange im Spind und beginnt damit, ihn umständlich anzuziehen. Eigentlich sind das Bewegungen, die er seit Jahren – Jahrzehnten – jeden Tag durchführt und sie sollten ihm in Fleisch und Blut übergegangen sein, aber heute ist kein Tag wie jeder andere.

Heute darf er sich umständlich anziehen und seine Finger dürfen heute seinen Befehlen nicht so richtig gehorchen wollen.

Es ist nicht das erste Mal, dass er einen Freund verloren hat. Es ist auch nicht das erste Mal, dass er einen Freund obduzieren muss.

Das hat jedes Mal zu den allerschlimmsten Tagen in seinem Leben gehört. Aber dennoch hat er sich nie gescheut es zu tun, oder sich darum gedrückt. Für ihn gibt es keine andere Möglichkeit.

Die Obduktion von jemand anderem – jemand fremden – durchführen zu lassen, das könnte er nicht übers Herz bringen. Es ist ein letzter Akt der Freundschaft, das er die Autopsie auf sich nimmt; er, dem der, der da tot vor ihm auf dem kalten, kalten Tisch liegt, nicht gleichgültig ist.

Wie könnte er einen Fremden das Skalpell nehmen lassen, mit dem er gleich Anthonys Haut aufschneiden wird? Die Säge, mit der er seine Rippen durchtrennt, damit er an sein Herz gelangen kann?

Ein letzter Akt der Freundschaft. Wahrscheinlich kann das niemand verstehen, der nicht selbst bei der Polizei oder der Regierung oder in der Gerichtsmedizin arbeitet. Vermutlich nicht einmal alle von diesen.

Er muss sich selbst eingestehen, dass es eigentlich geradezu paradox ist. Immerzu schneidet man Leichen auf, die einem fremd sind, zu denen man keine Verbindung hat. Man wird hart, stumpft geradezu ab, während man DNA-Proben aus zerfetzen Gliedmaßen entfernt, die inneren Organe auf der Suche nach Spuren von Gift zerteilt, oder verbrannte Gestalten vor sich hat, die nur noch im Entferntesten menschlich aussehen.

Er hat seinen Job immer gerne gemacht. Versucht, die Toten nicht als namenlose Fremde zu begreifen, deren Sterben niemanden interessiert. Er hat mit ihnen geredet, ihnen oft den Namen und die Identität zurückgegeben, damit sie zu ihren Familien gebracht werden können, die dann um sie trauern.

Der Tod war ein ständiger Begleiter in seinem Leben und in all den langen Jahren hat er seinen Schrecken verloren und oft meinte er, die schwarze Gestalt am Ende des Raumes stehen zu sehen, oder bei den Füßen der Toten. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, in einen nachtdunklen Mantel gehüllt. Nahe da, doch meist so fern.

Ein Schatten, der nicht verletzt, der nur da ist, um die Gestorbenen, Ermordeten, Gejagten mitzunehmen. Der Tod hat für ihn nie die Sense getragen, die das Klischee ihm so gerne gibt. Für ihn war er oft nur ein Bote, der die Körper zurücklässt und etwas anderes – er mag es nicht ‚Seele' nennen – mitnimmt.

Heute aber hat der Tod auch für ihn all den Schrecken, den er für die Menschen seit Jahrtausenden getragen hat. Schmerz, Angst, Wut, Trauer, Hass, Verlust, Entsetzen.

Vor allem aber das Gefühl einer furchtbaren Leere in seiner Brust. In seinen nun schon fast siebzig Jahren hat es nur wenige Momente gegeben, in denen er dasselbe gespürt hat. Aber all jene liegen nun schon so lange zurück, dass der Schmerz verblasst ist und nur noch ein dumpfer Nachhall an die ersten Minuten, Stunden, Tage nach der Todesnachricht mahnt.

Meist auch nur noch, wenn er sich absichtlich auf die Straße der Erinnerung begibt und sich die Zeit nimmt, über die Menschen nachzudenken, die jetzt schon so lange in der kalten Erde ruhen.

Seine Eltern sind schon seit fast dreißig Jahren tot. Zu lange. Jahre nach dem Schmerz sind auch ihre Bilder in seinem Kopf verblasst und nur dieses Vergessen – oder eher Verlieren – hat den Schmerz wieder aufwecken können. Weniger intensiv, aber dennoch noch immer da.
Seine Schwester, die der Krebs vor fünfzehn Jahren besiegt hat. Auch sie liegt in ihrem Grab, und obwohl er sie so oft besucht, wie es ihm möglich ist, beginnt auch ihr Bild zu verschwinden. Die Zeit. Womöglich der einzig große Feind des Menschen.

Frau und Kinder hat er nie gehabt. Vielleicht hängt er deshalb so sehr an diesen jungen Leuten, die so bereitwillig ihr Leben in den Dienst des Staates gestellt haben. Jethro, ja, der ist ein Freund. Die anderen, nun ja, er möchte sie fast als seine Adoptivkinder bezeichnen.

Und jetzt ist eines von ihnen tot.

Tief durchatmen, Donald, schilt er sich, als er seine grüne Haube aufsetzt und zubindet. Deine Aufgabe wartet auf dich da draußen bei Anthony. Du brauchst noch viel Kraft heute.

Mit einem leisen Zischen öffnet sich die automatische Türe zur Autopsie. Das Licht dort ist gleißend hell und schmerzt fast in den Augen. Sicher, er ist daran gewöhnt. Dennoch.

Anthony liegt auf dem Tisch ganz am anderen Ende des Raumes. Die Beamten haben ihn vor wenigen Minuten gebracht, damit sich Ducky an seine Arbeit machen kann.

Er ist nackt und blass und wirkt so ganz anders unter dem sterilen Licht. Still. Reglos. Unnatürlich. Anthony war früher nie still. Er hatte so viel Energie und hat sich ständig bewegt oder geredet oder ist einfach nur ein bisschen rumgezappelt. Oft hat er ihn an ein kleines Kind erinnert, das sich auch nie ruhig verhalten kann.

Die Blässe hat seinen gesunden, leicht mediterranen Hautton völlig verdrängt. Er sieht aus wie Wachs, nur die dunklen Leichenflecken geben seinem Körper ein wenig Farbe.

Fast nebenbei bemerkt Ducky, wie mager Anthony hier auf dem Tisch erscheint. Schon immer war er schlank gewesen – er erinnert sich noch ganz genau an die vierteljährlichen Checkups, bei denen Anthony immer nur knapp am Untergewicht vorbeigeschrammt war – aber er kann sich nicht erinnern, je so deutlich seine Rippen gesehen zu haben.

Der Tod, denkt er sich, der Tod.

Ducky tritt noch einen Schritt näher und unwillkürlich beugt er sich hinab, um sein Ohr an Anthonys Mund zu halten. Er hat keine Hoffnung. Nein, Anthony ist eindeutig tot. Aber dennoch muss er sich noch einmal vergewissern. Selbst spüren, dass da kein schwacher Lufthauch über seine Lippen kommt. Was wäre, wenn er das Skalpell angesetzt und dann...?

Nein. Natürlich nicht. Er selbst hat Anthonys Tod schon am Tatort eindeutig festgestellt. Sein Körper hatte schon jegliche Wärme verloren gehabt.

Die Eiseskälte der ewigen Nacht. Sie erinnert ihn immer an die Erde, die er auf den Sarg seiner Eltern geworfen hat. Damals, vor mehr als dreißig Jahren. Sie war kalt gewesen, und ein wenig feucht und einfach nur unangenehm.

Plötzlich trifft Ducky die Surrealität des Augenblicks. Er alleine in der Autopsie, das gleißende Licht, Anthonys Leiche vor ihm auf dem Tisch. Ich werde ihn später zudecken, schießt ihm durch den Kopf. Er hat immer so schnell gefroren, wenn es ihm nicht gut ging. Sicher würde er eine Decke haben wollen. Er hätte etwas dagegen gehabt, sollte ihn Caitlin nackt sehen. Aber nun ist es zu spät. Auch sie wird wohl seinen Obduktionsbericht und die Fotos darin später ansehen müssen.

Sanft streicht er Anthony durch das dunkle, kurze Haar. Wie oft hat ihm Jethro einen Klaps auf den Hinterkopf gegeben und Anthony hat es kaum jemals etwas ausgemacht. Die beiden hatten schon ein seltsames Verhältnis, denkt er. Kaum zu durchschauen, und für kaum jemanden zu erkennen, dass sie sich eigentlich richtig gern hatten.

Jethro war völlig fertig gewesen, als sie sich über Anthonys toten Körper gebeugt hatten und seine Augen ihn angeflehten, ihm doch zu sagen, dass sich die Polizei geirrt hätte. Dass Anthony nicht tot wäre, sondern nur schliefe, oder verletzt sei, oder...
Nur Sekunden später hatte er allerdings schon wieder seine Maske aufgehabt und Befehle verteilt. Fotos, Skizzen, Beweise.

Er hat Abzüge von den Bildern hier. Eigentlich bräuchte er sie nicht, aber er hat dennoch danach verlangt. Vielleicht gewöhnt er sich ja an den Anblick, auch wenn er ihn vermutlich auf lange Zeit nicht aus seinem Kopf vertreiben können wird.

Unnötigerweise – ich sollte mich wirklich an die Autopsie machen, aufgeschoben ist nicht aufgehoben – nimmt er die Fotos zur Hand und sieht sie sich an.

Die offenen Augen, die blicklos in das Objektiv der Kamera starren. Kaum mehr ein Schimmer des einstigen Grüns zu erkennen. Kein Funken Leben mehr. Regentropfen haben sich in ihnen gesammelt und der Fotoapparat hat sie für die Ewigkeit eingefangen. Kurz danach, daran erinnert er sich mit scharfer Genauigkeit, ist wieder ein Tropfen seine Wangen hinuntergeflossen. Die Tränen auf dem Foto verharren. Kurz vor dem Überlaufen. Ich habe ihn nie weinen sehen, denkt er. Nur jetzt, im Tod.

Ein anderes Foto. Die blasse Hand, die in der Regenrinne liegt. Die grazilen Finger, vom Wasser aufgeweicht. Ein wenig so, als ob er sie ihnen entgegenstrecken würde. Auffordernd. Findet mich. Helft mir. Zu spät. Niemand war da gewesen. Kein Fremder, kein Freund. Nur sein Mörder. Er war allein gestorben.

Ein weiteres Foto. Keine Nahaufnahme, sondern Anthonys ganzer Körper, wie er da im Regen auf der Straße liegt. Hilflos, verkrümmt. So wie er gefallen war. Allein mit diesem Bild ist sich Ducky schon fast sicher, dass er sofort tot war. Wirklich kaum gelitten hat. Kein einziges Indiz spricht dafür, dass er sich nach dem Fall noch einmal bewegt hat. Auch die offenen Augen sprechen Bände.

Wenigstens das, versucht er sich einzureden, wenigstens kaum Schmerzen. Er fährt sich mit den Händen über das Gesicht. Tränen kann er jetzt nicht gebrauchen. Vielleicht später. Vielleicht nicht. Er hat schon lange nicht mehr geweint. Das letzte Mal, als er bei seiner Schwester im Krankenhaus war und sie gerade fünf Minuten tot.

Er erinnert sich, wie Jethro im Regen gestanden ist, mit Anthonys Brieftasche in der Hand, die vorher achtlos neben seinem Körper gelegen hat. Nach kurzem Zögern hat er sie geöffnet, seinen Dienstausweis gesehen, seine Marke. Er hat Jethro beobachtet, als er zwei, drei Fotos kurz betrachtet hat und anschließend feststellt, dass all das Geld noch da ist. Hat den Zeitpunkt erkannt, als seinem Freund die absolute Sinnlosigkeit des Verbrechens bewusst geworden ist. Kein Grund, warum Anthony in der Gasse liegt. Nicht einmal ein Raub. Viel Geld wäre es vermutlich ohnehin nicht gewesen, aber auch alle Kreditkarten sind noch da. Der Mörder scheint die Brieftasche kaum beachtet zu haben. Es ging ihm nicht um Geld. Nur um das Töten an sich.

Vorsichtig hat Jethro die Geldbörse in eines der Beweistütchen gesteckt. Vielleicht – hoffentlich – sind daran Fingerabdrücke. Schon am Verhalten seines Freundes am Tatort hat er erkannt, dass wohl kaum Spuren zu finden sein werden.

Ein schneller, spontaner Mord ohne jegliches offensichtliche Motiv. Keine Verbindung zu seinem Opfer. Der Regen, der all die Spuren wegspült, die der Mann hinterlassen haben könnte. Die Zeit, die vergangen ist, seit Anthony gestorben ist. Es waren bestimmt mehr als vierundzwanzig Stunden, bis er endlich gefunden wurde. Die genaue Zahl wird er erst während der Autopsie feststellen können, aber er ist sich ziemlich sicher. Die Kälte seiner Haut, die Leichenblässe durch die sich zersetzenden Pigmente, die ihm fast auch schon die Augenfarbe genommen hat. Ausgeprägte Rigor Mortis.

Ducky seufzt leise. Dann legt er die Bilder wieder auf das Beistelltischchen und dreht sich um.
Zum Glück haben sie ihm bereits die Augen geschlossen, denkt er, ich könnte es jetzt nicht ertragen, sie zu sehen. So leer und ohne Leben.

Professionalität, Donald, schilt er sich. Du musst jetzt deine Gefühle zur Seite schieben, denn du musst deinen Teil dazu beitragen, dass Jethro Anthonys Mörder finden kann. Du musst ihm sagen, in welchem Winkel die Kugel in seinen Körper eingedrungen ist, und welches Kaliber sein Herz zerfetzt hat. Ob Anthony den Mann gesehen hat, bevor er sterben musste, oder ob er nicht einmal den Schuss gehört hat, bevor er zu Boden fiel.

Vor allem aber musst du herausfinden, ob er wirklich keine Schmerzen hatte, als er gestorben ist. Für Jethro, und für Caitlin und Abigail und für Timothy. Auch für dich selbst. Du vermutest es, aber du weißt es nicht. Es wäre gut, wenn du das bestätigen kannst. Ein kleiner Trost im großen Unglück.

„Nun gut, mein Freund," sagt er dann. Die ersten Worte, die er an Anthony richtet, seit er nicht mehr am Leben ist.
„Dann lass uns anfangen." Noch einmal streicht er ihm durch die Haare und über die Stirn, wo er kurz in einer beruhigenden Geste verharrt.
„Du warst oft hier unten und hast mir zugehört, wenn ich mit den Toten gesprochen habe. Meist hast du gutmütig gelächelt, die Eigenarten eines alten Freundes. Du wirst mir sicher auch jetzt zuhören. Ich hoffe, ich kann dir etwas erzählen, was dir den langen Schlaf einfacher macht. Ich fürchte zwar, dass ich dir nicht mit schnellen Autos dienen kann, und auch nicht mit schönen Frauen. Da gab es zwar ein paar in meinem Leben, aber ich glaube, das hier ist nicht der richtige Ort und Zeitpunkt dafür. Ich werde dir das ein ander Mal erzählen.
Du hast zwar nie gesagt, ob du an einen Gott glaubst oder nicht, aber immerhin kommst du aus einer italienischen Familie. Bist wahrscheinlich mit dem sonntäglichen Kirchgang groß geworden. Warst du Ministrant, mein Junge?
Nun ja, wo war ich? Genau, von den schönen Frauen erzähl ich dir ein ander Mal. Ach, da gab es eine, die hätte dir auch gefallen. Sie war bildhübsch, mit langem, dunklen Haar, das wie ein Wasserfall..."

Ducky unterbricht sich einen Moment. Noch einmal trifft ihn die Surrealität der Situation mit erschreckender Schärfe. Zögernd verharrt er, die Hand schon nach dem Skalpell ausgestreckt. Es liegt neben ihm, nur ein paar Zentimeter von Anthonys nackter Schulter entfernt.

Aber dies ist der letzte Moment, an den er sich erinnern will. Der Moment, in dem der Körper seines Freundes noch einigermaßen unversehrt ist, auch wenn er schon kaum mehr an den Mann erinnert, der er noch vor wenigen Tagen war. Die Blässe, die Nacktheit, die Leichenflecken.

Vor allem aber das kleine Einschussloch in seiner Brust.

Duckys Finger schließen sich um das kleine Chirurgenmesser und er atmet tief ein.
Denk an diesen Moment, Donald, denk das letzte Mal für die nächsten paar Stunden daran, dass hier dein Freund liegt. Und dann denk nur noch an die Arbeit. Wenn du fertig bist, dann kannst du wieder an Anthony denken, und an Jethro und die anderen. Erst dann. Jetzt leiste deinen Beitrag.

Er hebt das Skalpell auf, rückt noch einmal seine Brille zurecht und setzt dann das Messer auf Anthonys Brust. Seine Hände zittern kein bisschen.

Vielleicht ein wenig, wenn man ganz genau hinsieht.


TBC!
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