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Author's Chapter Notes:
Eine Woche später: Abby versucht mit ihrer Trauer fertig zu werden. Auf dem Weg durch die weihnachtlichen Straßen von Washington...
Tja, ich hoffe, dass auch diesmal alles mit dem Kapitel in Ordnung ist! Wäre schön, wenn es euch gefällt! Danke an alle, die FB geschrieben haben!


Ein Gesicht in der Menge

Manchmal, denkt Abby sich, ist es von großem Vorteil, ein Goth zu sein. Selbst in einer so liberalen Stadt wie Washington begegnen viele Leute Menschen wie ihr immer noch mit großer Vorsicht, was dazu führt, dass sie selbst in überlaufenen Straßen selten ein Problem mit dem Vorankommen hat.

Auch heute, drei Tage vor Weihnachten, öffnet sich auf ihrem Weg entlang der übervollen Bürgersteige wie durch ein Wunder immer eine kleine Lücke, durch die sie schlüpfen kann.

Einige Blicke der Vorüberhastenden zeigen ganz deutlich ihre Geringschätzung und Verachtung für das ganz in Schwarz gekleidete Mädchen, das so ganz und gar nicht in Eile zu sein scheint.

Abby geht langsam an all den farbenprächtigen, glitzernden, funkelnden und leuchtenden Schaufenstern vorbei. Sie hat wirklich keine Eile, denn sie ist nicht mit Einkäufen für das nahende Weihnachtsfest beschäftigt.
Um das Menü muss sie sich nicht kümmern, denn sie wird morgen Nachmittag für die Feiertage zu ihrer Familie nach New Orleans fliegen. Einige Geschenke hat sie schon Anfang Dezember besorgt, als es in der Arbeit etwas ruhiger war und ihr Leben auch noch in Ordnung.
Diejenigen, für deren Gabentisch sie nichts hat, werden es dieses Jahr sicher verstehen, warum sie keine Zeit und keinen Kopf für Weihnachtseinkäufe gehabt hat, nicht die Nerven für vollgepfropfte Kaufhäuser und die überlangen Warteschlangen an den Kassen.

Tonys Beerdigung liegt gerade einmal eine Woche zurück. Heute vor sieben Tagen ist sie an seinem offenen Grab gestanden und hat bittere Tränen geweint, weil ihre lange Suche umsonst gewesen und Tony nicht mehr da ist und niemals wiederkommen wird.

Sie blinzelt ein paar Tränen weg, die ihr schon wieder in die Augen steigen wollen. Sie hat das Gefühl, als ob sie seit Gibbs' schrecklichem Anruf vor neun Tagen nichts mehr anderes getan hat als zu weinen oder wenigstens kurz davor zu sein.

Tony hätte das nicht gewollt. Er hat sie immer als seinen Sonnenschein bezeichnet, aber im Moment kann sie sich nicht helfen. Die Tränen kommen zu jeder Tages- und Nachtzeit, weil sie so vieles an ihn erinnert und weil jetzt noch alle Erinnerungen schmerzhaft sind.

Irgendwann wird dieses Gefühl auch vergehen, und dann kann sie vielleicht mit einem Lächeln an ihn zurückdenken, aber es wird mit Sicherheit noch lange dauern, bis sein Name in ihren Gedanken ihr nicht im Innersten weh tut, und sein Gesicht und sein Lächeln keine Stiche in ihrem Herzen verursachen.

Sie will auch gar nicht, dass der Schmerz aufhört. Allein der Gedanke daran fühlt sich wie Verrat an, jetzt, wo Tony erst wenige Tage in seinem einsamen Grab liegt.

Sie vermisst ihn mit einer Intensität, die sie kaum für möglich gehalten hätte.

Oft fühlt sie sich jetzt allein in ihrem kalten Labor, auch wenn er früher nicht allzu häufig heruntergekommen ist und Gibbs sich nun Mühe gibt, mehrmals am Tag vorbeizuschauen.

Dennoch.

Sie liebt Gibbs, aber er ist nicht Tony, und Tony war für sie etwas Besonderes.

Ein guter Freund, der denselben Humor hatte und mit dem sie in die schrägsten Bars gehen konnte, weil es ihm nichts ausgemacht hat und er daran auch Spaß hatte.

Er hat sie nie für seltsam gehalten, sondern sie einfach so hingenommen wie sie ist. Die Blicke der Passanten, die sie in aller Eile und mit aller Vorsicht mustern, erinnern sie schmerzlich an Tonys ersten Tag beim NCIS.

Sie war schon oft als komisch erachtet worden – ein Wunder, denkt sie manchmal, dass sie ihren Job bekommen hat. Das Mädchen in Schwarz, mit ihren Spinnentattoos, ihren Nietenhalsbändern und den seltsamen Zöpfen, die ihr rabenschwarzes Haar aus dem blassen Gesicht halten.

Selbst Gibbs hatte damals eine Weile gebraucht, um sich an sie zu gewöhnen, was aber – das hat sie allerdings erst später verstanden – eher an seiner von Grund auf misstrauischen Natur gelegen hat und nicht an ihr.

Gibbs hatte ihr am Abend zuvor von dem neuen Agenten in seinem Team erzählt, einem jungen Cop aus Baltimore. Neugierig wie sie ist, hatte sie sich in seine Akten gehackt, um einen Eindruck von Anthony DiNozzo zu gewinnen.
Ehrlich gesagt, hatte sie sich gefragt, was Gibbs wohl an ihm finden könnte. Ein Schönling aus einer reichen Familie.
Ihre Frage war dennoch schon am nächsten Tag beantwortet worden, als Gibbs den Neuen das erste Mal mitbrachte.

Anstatt sie mit seltsamen Blick erst einmal abschätzend zu mustern, hatte er sofort gelächelt, die Arme ausgebreitet und ein paar, für Abby sehr wichtige Worte gesagt.

„Auf dich habe ich mein Leben lang gewartet."

Sie hatte sich sofort in ihn verliebt, auf rein platonische Art und Weise natürlich, und von diesem Zeitpunkt an waren sie Freunde gewesen.

Von ganz zu Anfang an haben sie einander vertraut und haben sich Dinge erzählt, die sonst niemand erfahren hat.

Sie hat mit ihm über ihre Beziehungen gesprochen, über alles, was schief gelaufen ist, was sie verletzt und enttäuscht hat. Auch er hat von seinen Freundinnen geredet – von den Versuchen, jemanden zu finden, der ihm wirklich etwas bedeutet und dem er wirklich etwas bedeutet – aber meistens hat er von seiner Familie geredet, die ihn enterbt und ausgestoßen hat und für die er nichts wert ist.

Hinter seinem Lächeln lag immer so viel Leid, das er gut versteckt hat, und als sie so durch die Menschenmassen streift, fragt sie sich unwillkürlich, was all die Leute hinter ihren verschiedenen Masken verbergen, damit niemand ihre Wunden sieht.

Sie selbst fühlt sich, als ob sie reichlich schlecht im Verstecken ihrer Trauer ist. Als ob jeder in ihr Herz sehen könnte und die riesige Lücke darin, die Tonys Tod dort hinterlassen hat.
Sie mag diesen Schmerz auch gar nicht verbergen. Jeder soll ihn sehen, soll spüren, dass da etwas passiert ist, was unglaublich weh tut. Tony hätte es verdient, dass die ganze Welt weiß, dass da ein Mensch gestorben ist, der etwas Besonderes war. Ihr Freund.

Sie wird noch lange brauchen, um darüber hinwegzukommen. In der Woche seit seiner Beerdigung ist sie jeden Tag zu seinem Grab gegangen, um ihn zu besuchen, weil sie sich so einsam fühlt.

Sie war jedes Mal alleine dort gewesen, hat in aller Stille mit ihm Zwiesprache halten können und dem Wind in den Ästen zugehört, aber sie weiß, dass auch die anderen regelmäßig vorbeikommen, weil sie bei ihm sein wollen.

Kate hat immer frische Blumen gebracht, aber auch die anderen haben ihre Spuren hinterlassen. Abgebrannte Kerzen, die dann ausgetauscht werden. Das aufgefüllte Weihwasserschälchen, das aufgrund der Kälte zwar fast immer zugefroren ist, aber dennoch...

Die Geste zählt.

Sie fühlen sich alle von dem stillen Ort unter den kahlen Bäumen angezogen, vom einfachen Kreuz, das noch durch einen Marmorstein ersetzt werden soll und im Moment nur Tonys Namen und sein Sterbedatum trägt.

11. Dezember 2006.

Zehn Tage.

Jeden Abend ist sie davor gestanden und hat an ihn gedacht und mit ihm geredet. Kate hat ihr erzählt, dass sie ihm am Tag seiner Beerdigung das Versprechen gegeben hat, ihn nicht zu vergessen und Abby gedenkt, dasselbe zu tun.

Wie könnte sie auch?

Es erinnert so vieles an ihn.

Die Weile nach Tonys Verschwinden war schrecklich gewesen, aber da gab es wenigstens noch etwas Hoffnung.
Sie weiß gar nicht, wie sie die ersten Tage und das Begräbnis überstanden hat. Die Zeit zwischen Gibbs' nächtlichem Anruf und der Minute, in der Tonys Sarg in der Erde verschwunden ist, ist wie mit einem Schleier überzogen. Alles ein wenig unscharf, die Farben und Geräusche gedämpft.

Allein ihrer Gefühle ist sie sich um so schmerzhafter bewusst.

Herzzerreißende Trauer.

Ich frage mich, wie es in einem Jahr sein wird, denkt sie. Wenn Tony schon einen Winter nicht mehr bei uns gewesen ist, und einen Frühling und einen Sommer und einen Herbst. Wenn seine Stimme schon 365 lange Tage nicht mehr zu hören war und an seinem Schreibtisch wahrscheinlich ein anderer sitzt.

Wie lange wird Gibbs warten, bis ein neuer Agent Tonys Platz einnehmen wird? Will er das überhaupt? Und wenn nicht, wie lange kann er sich gegen Befehle von oben widersetzen?

Ich will nicht, dass ein anderer kommt. Tony ist nicht zu ersetzen, egal wie gut und kompetent der andere sein mag. Er ist nicht Tony.

Niemand ist Tony. Keiner der vielen NCIS-Mitarbeiter. Keiner, der hier seinen Weihnachtsgeschenken hinterherjagt. Keiner auf der ganzen Welt.

Mit einer behandschuhten Hand wischt sie sich nun über die Augen, weil sie die Tränen jetzt doch nicht länger zurückhalten kann.

Abby bleibt kurz vor einem Schaufenster eines Spielwarengeschäftes stehen, um nachzusehen, welchen Schaden die Tropfen ihrem Make-up zugefügt haben.

In Wahrheit will sie nur ihre Fassung wiedergewinnen. So bleibt sie einige Minuten stehen und sieht sich geistesabwesend die Auslage an. Spielzeugeisenbahnen, Puppen, Playmobilfiguren.

Als sie sich umdreht, bekommt sie fast einen Herzinfarkt.

Ein paar Meter vor ihr verschwindet gerade Tony in der Menge und wird von den Vorüberhastenden verschluckt.

Entsetzt schüttelt Abby den Kopf, aber bevor sie sich von der Unmöglichkeit der Sache überzeugen kann, haben sich ihre Beine auch schon in Bewegung gesetzt.

Sie läuft in die Richtung, in der der Mann vor wenigen Sekunden verschwunden ist. Ihr Kopf ist ein Durcheinander an Gedanken und Gefühlen.

Er kann es nicht sein!

Tony ist tot. Ich bin an seinem Grab gestanden, habe Fotos von seiner Leiche gesehen und Duckys Autopsiebericht gelesen.

Und doch eilt sie Tony – dem Mann, mahnt sie sich – hinterher, weil sie sich vergewissern muss. Was wäre, wenn... ? Nein, ich darf hier nicht weiterdenken!

Eine halbe Minute später sieht sie den Mann wieder vor sich. Er hat Tonys Größe, Tonys Statur und seine Haarfarbe. Und auch wenn sie nur den Kragen sehen kann, meint Abby sogar, sein Hemd wiederzuerkennen. Er hat es oft angehabt, weil es zu seinen Augen passt, meinte er.

Sie läuft noch ein wenig schneller – warum musste ich auch meine Plateauschuhe tragen? – weil eine irre und unbestimmte Hoffnung sie vorantreibt. Ihr Herz schlägt wild in ihrer Brust und sie muss sich anstrengen, ihre Gefühle zu beherrschen.

Sie weiß, dass es nicht möglich ist.

Nun ist sie bis auf ein paar Schritte an den Mann herangekommen. Er geht ruhig und ohne Hast, und jetzt ist Abby auch überzeugt, dass er nicht Tony sein kann.
Er bewegt sich völlig anders, seine Haltung ist gekrümmter, seine Schritte kürzer.

Die irrationale Hoffnung zerplatzt in einem Augenblick.

Irrational, unbegründet und dennoch tut es weh.

„Tony," flüstert sie leise. Ein Name im Wind.

Trotzdem hat der Mann sie gehört und er dreht sich nach ihr um. Ein fragender Ausdruck liegt auf seinem Gesicht, und jetzt wundert sich Abby auch, warum sie sich überhaupt so täuschen hat lassen können. Sie sieht keine Ähnlichkeit mit Tony. Kein liebes Lächeln, keine strahlenden Augen.

Ihre Stimme ist voller erstickter Tränen, als sie ein leises „Tut mir leid, ich habe Sie verwechselt" über ihre Lippen zwingt.

Der Mann betrachtet sie vorsichtig – Ich tu Ihnen schon nichts; Tony hätte mich nie so angesehen – dann nickt er abrupt und wendet sich ab. Mit ein paar Schritten löst er sich in der Menge auf.

Zurück bleibt Abby, die jetzt wieder zu weinen begonnen hat.

Einsam und hilflos und verlassen.

Unsicher sucht sie ihr Handy in ihrer Handtasche und drückt dann die Eins.

Es klingelt zweimal.

„Ja?"

Zuerst kann sie gar nichts sagen. Sie schluckt hörbar.

„Abby?"

„Gibbs... kannst du... kannst du mich bitte abholen?"

Er ist nur zwanzig Minuten später bei ihr und schließt sie sofort in seine Arme.

„Mein Mädchen," flüstert er.
„Du bist nicht allein. Es ist für alle schwer. Aber ich bin ja bei dir."

An diesem Abend schläft sie in seiner Wohnung. Sie weint die halbe Nacht bis sie endlich erschöpft einschläft.



TBC! (Ja, es geht noch weiter!)
Reviews wären wieder unglaublich großartig!! Danke
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